Ren hauchte auf seine Finger und warf einen kurzen Blick nach hinten in den Wagen. Lang konnte er den Sack nicht ansehen. Er wirkte von Mal zu Mal menschlicher, so dass Ren immer mehr Gewissensbisse bekam. Er konnte Gottes Blick im Nacken spüren wie einen angespitzten Stock. Er versuchte zu pfeifen, aber seine Lippen waren trocken.
Die restlichen Leichen trugen Benjamin und Tom auf den Armen wie Holzscheite oder über der Schulter. Die Männer bewegten sich ungezwungen, hatten die Gesichter aber abgewandt. Nachdem sie die Grasfläche überquert hatten, ließen sie die Säcke hinter dem Wagen auf den Boden fallen. Ein Sack roch übler als der andere.
»Wehe, wenn sich das nicht gelohnt hat«, sagte Tom, als er den letzten von der Schulter gleiten ließ.
Die Männer hoben die Toten nacheinander in den Wagen. Als sie fertig waren, hielt Tom kurz inne, um einen Schluck aus seinem Flachmann zu trinken, dann ging er zurück, um die Gräber zuzuschütten. Benjamin holte tief Luft, räusperte sich und spuckte aus. Sein Mantel war voller Dreck. Die Fingernägel waren rabenschwarz. Mit der Hand kämmte er sich die Erde aus dem Haar, dann drehte er sich um und breitete Decken über die Ladung hinten im Wagen. Dabei hielt er sich mit einer Hand die Nase zu.
»Sie riechen abscheulich«, sagte Ren.
Benjamin lächelte, die Hand noch immer vorm Gesicht. »Sie werden uns nicht lange begleiten.«
»Und was ist, wenn ihre Familien nach ihnen suchen?«
»Das wird nicht geschehen.«
»Wenn aber doch?«
»Bis sie uns auf die Schliche kommen, ist nichts mehr von ihnen übrig.«
Ren musste an Doktor Milton und seine chirurgischen Instrumente denken. Die Zangen. Die Nadeln. Die diversen Messer. Die geschwungenen Klingen. Die Knochensäge.
»Du bist wohl doch nicht so robust, kleiner Mann.«
»Doch, bin ich«, sagte Ren.
»Dann beweis es mir.« Benjamin hob das Ende eines Sacks an, das aufgegangen war, und knotete es wieder zu. Dann ging er zurück in den Friedhof.
Das Pferd schnaubte, als er wegging. Die Muskeln in seinem Körper bebten und zuckten, als wollte es etwas abschütteln. Ren kletterte vom Bock auf die Straße hinunter und tätschelte die Stute knapp oberhalb des Beins, um sie zu beruhigen. Sie hatten einen langen Weg hinter sich, von der Scheune bis hierher zum Friedhof. Das Tier sah mitgenommen aus, hatte aber noch immer dasselbe dichte Fell und denselben klaren Blick. Ren fragte sich, ob der Farmer schon einen Ersatz für die Stute gefunden hatte. Und ob er das zweite Pferd auch küsste.
Während Ren zusah, wie sich die Nüstern der Stute blähten und verengten, hörte er, wie sich hinter ihm etwas bewegte. Er rührte sich nicht. Seine Hand lag auf der Flanke des Pferdes. Ein paar Sekunden vergingen, ehe er den Mut aufbrachte, sich umzusehen. Doch außer der leeren Straße konnte er nichts entdecken. Das Friedhofstor zu seiner Rechten stand offen. Zu seiner Linken lag der Gemeindeanger, dessen Gras sich im Wind bog. Ich habe keine Angst, dachte Ren. Dann schaute er hinten in den Wagen. Einer der Säcke hatte sich aufgerichtet.
Es war der größte Sack, der, den Tom und Benjamin als ersten gebracht hatten. Das Sackleinen war fest zugeschnürt, so dass Ren die Umrisse von einem Kopf und Schultern erkennen konnte. Er ließ die Zügel fallen, und der Sack drehte sich in seine Richtung und legte dabei den Kopf leicht schräg, als horchte er, als wartete er darauf, ihn reden zu hören.
Ren wollte Benjamin rufen, aber seine Stimme ließ ihn im Stich. Als er den Mund aufmachte, schnürte es ihm die Kehle zu. Langsam machte er ein paar Schritte auf das Tor zu. Der Kopf im Sack drehte sich und schien ihn zu beobachten. Der Junge erstarrte. Er schlurfte ein Stück in die andere Richtung, und wieder folgte ihm der Kopf im Sack.
Benjamin kam mit beschwingtem Schritt aus dem Friedhof. Dann sah er, was los war. Der Spaten auf seiner Schulter fiel auf die Straße. Der Sack drehte sich abrupt um und beugte sich in Benjamins Richtung. Ren wäre am liebsten weggelaufen, aber Benjamin gebot ihm mit einer Geste, sich nicht vom Fleck zu rühren. Mit der anderen zog er langsam sein Messer aus dem Stiefel, als wollte er den Sack im Wagen nicht erschrecken. Als hinge sein Leben und Rens Leben und alles ringsum – der Mond und das Pferd und der Wagen und die Toten –, als hinge alles davon ab, dass er behutsam vorging. Einen Augenblick später stand er neben der aufgerichteten Gestalt auf dem Karren und schnitt den Sack auf.
Das Pferd wurde unruhig. Es schlug leicht aus, so dass seine Beine gegen das Holz krachten, und plötzlich fand Ren seine Stimme wieder. Tom kam aus dem Friedhof angerannt und hielt ihm den Mund zu, aber Ren schrie zwischen Toms Fingern hindurch.
»Schon gut«, sagte Benjamin. »Beweg dich nicht.«
Im Wagen war ein toter Mann, der aufrecht mit offenen Augen dasaß. Der Rupfensack hing ihm wie eine Kapuze um die Schultern. Sein Kopf war eckig und gedrungen und voller Dreck. Er hatte eine Glatze.
»Ich habe Hunger«, sagte der tote Mann. An seinen Lippen hing Erde.
»Ja«, sagte Benjamin. Er wirkte nervös, schnitt ihm aber mit dem Messer den Sack weiter vom Leib. Er machte kleine Schnitte und riss den Rest mit den Händen auseinander. Er zog die Fetzen herunter, und zum Vorschein kam ein violetter Samtanzug.
»Ach du Scheiße«, sagte Tom.
Der grobe Sand von seinen Fingern verteilte sich auf Rens Zähnen. Ren hatte aufgehört zu schreien, aber er spürte noch immer Toms zitternde Hände auf Mund und Hinterkopf.
Der Mann saß in seinem violetten Anzug im Wagen und musste im Mondlicht blinzeln. Unter den Augen hatte er Ringe, als hätte er wochenlang nicht geschlafen. Seine Gesichtszüge waren grobschlächtig und brutal – ein Kiefer, der sich unter den Ohren weit vorwölbte, eine Nase, die aussah, als wäre sie schon mehr als einmal gebrochen. Jetzt, wo er aufrecht saß, schien er den ganzen hinteren Teil des Wagens auszufüllen. Seine Schultern führten vom Hals weg wie Mauern. Selbst im Sitzen wirkte er fast größer als Benjamin.
Der Mann schloss die Augen und sank gegen die Seitenwand des Wagens.
»Ist er jetzt tot?«, fragte Tom.
Benjamin tastete hoffnungsvoll nach dem Puls am Hals. »Nein.«
»Los, verschwinden wir.«
»Wir können ihn nicht dalassen«, sagte Benjamin. »Sonst kommt jemand dahinter.«
»Dann verscharren wir ihn wieder. Er merkt bestimmt keinen Unterschied.«
Benjamin stand einen Augenblick lang unschlüssig da. Er wiegte sich vor und zurück, und sein Schatten wanderte über den großen Mann. »Dazu haben wir keine Zeit«, entschied er. Er sprang vom Wagen und gab Ren einen Schubs. »Hol mir einen Strick. Wir nehmen ihn mit.«
Ren fand unter dem Kutschersitz eine Schnur, und Benjamin machte sich daran, den toten Mann zu fesseln. Über ihre Gerätschaften breiteten sie Decken. Tom fischte seinen Flachmann aus der Tasche, aber als er trinken wollte, stellte sich heraus, dass er leer war. Er setzte sich neben Ren und ergriff die Zügel.
»Geh nach hinten«, brummte er.
Ren kletterte über das Brett, das als Lehne diente. Er hielt sich seitlich am Wagen fest, während sie die Straße entlangrumpelten. Die Leiber unter den Decken waren steif, gaben aber nach, wie Holz, das allmählich verfaulte. Ren konnte unmöglich feststellen, wo ein Körper endete und der nächste anfing. So schnell er konnte und möglichst ohne sich ihre Gesichter vorzustellen, kletterte er über sie hinweg in den hinteren Teil des Wagens.
Der tote Mann trug kein Hemd. Sein violetter Anzug hatte Löcher – winzige Löcher, durch die man kleine Fleckchen Haut und Haare sah. Seine Füße waren ebenfalls nackt, und irgendwie wirkten deshalb auch die Hände nackt, die offen auf seinem Schoß lagen, Hände mit dicken, rissigen Fingern. Sein Hals lag in Falten über dem Anzugkragen. Auf der Haut zeichnete sich ein ringförmiger dunkler Bluterguss ab.
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