Lea schoss von ihrem Stuhl hoch. »Du meinst, Orlando kommt heute nach Hause?«
»Hoffen wir es.«
In dem Moment drangen laute Stimmen aus der Vorhalle hoch. Lea lief aus dem Kontor und sah Orlando unten in der Halle stehen. Mit wenigen Schritten flog sie ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. »Orlando, es ist so schön, dich wiederzusehen.«
Er küsste sie, schob sie ein wenig zurück und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Ich glaube, du hast ein wenig zugenommen.«
Lea kicherte und wurde rot wie ein junges Mädchen, aber erst, als sie über ihren Bauch strich, begann er zu begreifen.
»Sag bloß, du bist schwanger.«
»Natürlich bin ich schwanger.« Lea blickte ihn leicht gekränkt an, weil er es nicht sofort erkannt hatte. Dann bemerkte sie die Schatten auf seinem Gesicht. »Was ist los? Du siehst aus, als wäre dir etwas Schlimmes zugestoßen.«
Orlando nickte bedrückt. »Nicht mir. Ich habe zwei Nachrichten mitgebracht, eine, die dich freuen wird, und leider auch eine sehr unangenehme.«
»Spann mich nicht auf die Folter!«
»Die gute Nachricht ist, dass Alban von Rittlage, der ja seine Herrschaft Elzsprung nicht aufgeben wollte, in einer offen angetragenen Fehde Leben und Besitz verlor.«
Lea atmete tief durch. »Rittlage ist tot. Damit sind mein Vater und mein Bruder nun endlich gerächt. Wie lautet nun die schlechte Nachricht?«
»Sie kommt aus Hartenburg. Ursula, die Ehefrau des Markgrafen, setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um deine Schwester Rachel aus dem Bett ihres Gemahls zu vertreiben, und hat sogar an den Papst geschrieben, damit dieser dem Hartenburger wegen seiner jüdischen Kebse den Kirchbann androht. Damit aber nicht genug lässt sie Medardus Holzinger suchen, damit er - wie sie gesagt haben soll - mit dem Judengezücht, das sich in Hartenburg eingenistet hat, ein für alle Mal aufräumt.«
Lea erstarrte. Mehr als ein Jahr lang hatte sie nichts mehr von ihren Geschwistern gehört und war überzeugt gewesen, sie hätte mit jenem Teil ihres Lebens abgeschlossen. Jetzt aber überfiel sie die Erinnerung an ihre eigene Begegnung mit dem Judenschlächter, und sie spürte, wie sich jedes Härchen auf ihrer Haut aufstellte.
»Ich muss ihnen helfen, Orlando. Holzinger wird sie und all jene auf den Scheiterhaufen bringen, die Ruben ben Makkabi nach Hartenburg gelockt hat.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Lea sich zu Alisio um.
»Sag Jochanan, er soll alles für die Reise vorbereiten. Wir werden Hamburg noch heute verlassen.«
Orlando zog sie tröstend an sich, streichelte ihren Bauch und schüttelte den Kopf. »Nein, das wirst du nicht tun. Du musst an unsere Tochter denken.«
»Es wird ein Sohn«, schnappte Lea.
Orlando küsste sie auf die Wange. »Du bist noch schöner, wenn deine Augen mich so anfunkeln. Aber ich wünsche mir dennoch, dass unser erstes Kind eine Tochter sein wird.«
In diesem Moment interessierte sich Lea jedoch nicht dafür. Sie packte den Kragen seines Wamses. »Verstehst du mich denn nicht? Auch wenn meine Geschwister nicht gut an mir gehandelt haben, kann ich sie doch keinem solchen Schicksal ausliefern! Und ich muss auch an jene anderen denken, die guten Glaubens nach Hartenburg gekommen sind. Haben sich viele Juden dort angesiedelt?«
»Soweit ich weiß, nur zwei Familien ohne viel Gesinde.« Orlando warf seinem Vater einen Hilfe suchenden Blick zu und nahm dessen unmerkliches Nicken wahr. »Sei vernünftig, mein Schatz. Du hast meine Verwandten gerettet, und jetzt werde ich mich dafür revanchieren.«
Um sie vollends zu überzeugen, fasste er ihre Hände und küsste sie. »Keine Sorge, ich schaffe das schon.«
Lea nickte nach kurzem Zögern und lächelte dann versöhnt.
»Davon bin ich überzeugt. Gib aber gut Acht auf dich. Ich möchte nicht, dass unser Kind ohne Vater aufwächst.«
Orlando und Don Manuel sahen sich erleichtert an, denn sie hatten sich schon auf eine Auseinandersetzung mit ihr eingestellt, und der alte Herr nickte ihr aufmunternd zu. »Bis mein Enkel oder meine Enkelin« - er warf seinem Sohn dabei einen spöttischen Blick zu - »geboren wird, hat Orlando deine Leute und die anderen Harten-burger Juden in Sicherheit gebracht und ist längst wieder zu Hause.«
»Das walte der Gott Israels«, sagte Dona Leonora, die einen Teil des Gesprächs gehört hatte.
D ie nächsten Monate wurden für Lea zur Qual.
Während ihre Schwangerschaft fortschritt, beschäftigten sich ihre Gedanken mehr mit Orlando als mit ihrem ungeborenen Kind, und immer wieder musste sie gegen die Furcht ankämpfen, er könne sich zu weit vorwagen und selbst ein Opfer Holzingers werden. Um sich abzulenken, stürzte sie sich in die Arbeit und saß Tag für Tag von Sonnenaufgang bis zur Dämmerung an ihrem Schreibtisch und lenkte die Geschicke des Handelshauses Fischkopf. Doch sie konnte sich nicht so recht über ihre Erfolge freuen, und das Lob ihres Schwiegervaters war ihr nun eher lästig, denn sie wollte nur über Orlando sprechen, ganz gleich, ob sie zur Abwechslung einmal Dona Leonora bei der Vorbereitung für ein besonderes Festmahl half oder ihren Schwiegereltern bei den Mahlzeiten Gesellschaft leisten musste.
Sie machte ihre Schwiegermutter so nervös, dass diese sie zuletzt nicht mehr aus den Augen ließ, aus Angst, Lea könne doch noch auf die Idee kommen, Orlando nachzureisen. Sarah und Ketura teilten die Befürchtungen der Hausherrin und halfen ihr ebenso wie Gomer, die seit kurzem mit Jochanan verheiratet war, Lea unauffällig im Auge zu behalten.
Als der Sommer sich neigte, war Lea immer noch ohne Nachricht. In ihren Träumen sah sie Orlando sich in Flammen winden und hörte seine Todesschreie. Die Bilder verfolgten sie auch noch im Wachen, und sie betete beinahe stündlich, dass ihr Kind nicht vaterlos aufwachsen möge.
Anfang September saß Lea wie gewohnt in ihrem Arbeitszimmer, obwohl ihr aufgewölbter Leib ihr das Schreiben schwer machte. Als das Kind sie besonders heftig trat, stand sie auf und presste die Hände gegen ihren schmerzenden Rücken. In dem Moment drang jener Lärm zu ihr hoch, der gewöhnlich Besucher ankündete.
Sie holte tief Luft, verwünschte die Störung, watschelte aber dennoch zur Tür und blickte neugierig hinaus. In dem Moment kam Orlando die Treppe hinauf. Er stürmte auf sie zu, umarmte sie aber so vorsichtig, als bestände sie aus hauchfeinem Glas, und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.
»Wie du siehst, bin ich doch noch vor der Geburt unserer Tochter zurückgekommen«, sagte er und streichelte dabei ihren Leib. Leas Lippen zuckten. »Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht, wenn es doch ein Sohn wird.«
Dann klammerte sie sich an ihn, als wollte sie ihn nie mehr loslassen, und fragte ihn ängstlich: »Hast du Elieser und Rachel noch retten können?«
Die Art, wie sie es sagte, verriet Orlando, dass ihre Liebe ihm auch einen Fehlschlag verzeihen würde. Er kitzelte sie mit der Nasenspitze unter dem Ohrläppchen, was seine Antwort nicht verständlicher machte. »Ich habe sie und alle anderen Juden rechtzeitig aus Hartenburg weggebracht. Da Ernst Ludwig von Hartenburg kaum eine seiner Zusagen Ruben ben Makkabi gegenüber eingehalten hatte, gab es außer deinen Verwandten dort nur die beiden Kleinhändlersippen, von denen wir schon gehört hatten.«
»Hattest du größere Probleme?«
Orlando konnte Lea ansehen, dass sie jede Einzelheit erfahren wollte. »Ganz und gar nicht. Ich brauchte nur noch die Flucht zu organisieren, denn die Leute waren schon vorgewarnt, und zwar durch deine Schwester. Ra-chel hat ein Gespräch zwischen ihrem markgräflichen Liebhaber und dessen Sekretär Frischler belauscht, in dem die beiden ehrenwerten Herren beschlossen, sie ebenso wie die anderen Juden Holzinger zu überlassen. Ich traf sie und die Oberhäupter der beiden anderen Familien bei deinem Bruder an, gerade als sie ihre scheinbar hoffnungslose Situation beklagten. Die markgräflichen Gardisten hatten zwar den Befehl, die Juden an der Flucht zu hindern, aber ich fand einen Torwächter, der goldenen Argumenten zugänglich war und mir half, die Leute einzeln aus der Stadt zu schmuggeln. So brauchte ich die Flüchtlinge nur noch draußen zu sammeln und auf dem gleichen Weg aus dem Land zu führen, den du damals genommen hast. Bis der Markgraf feststellen konnte, dass ihm seine Juden abhanden gekommen waren, befanden wir uns bereits auf habsburgischem Gebiet. Ich möchte nun nicht in seiner Haut stecken, denn der gute Ernst Ludwig wird seiner Gemahlin und Holzinger einiges zu erklären haben. Die beiden dürften annehmen, dass er die Leute selbst gewarnt und fortgeschickt hat.«
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