Jochanan stieß die Luft zwischen den Zähnen heraus, so dass es sich wie das Zischen einer Schlange anhörte. »Mach dir deswegen kein schlechtes Gewissen, Herrin. Du wolltest uns damals vor der Vertreibung retten, und das hast du getan. Hätten wir die Stadt ohne Erlaubnis verlassen, wären wir mit dem schwer verletzten Elieser keine Meile weit gekommen, denn die Reiter des Markgrafen hätten uns eingeholt und zurückgeschleppt. Was dann passiert wäre, können wir uns alle lebhaft vorstellen.«
Jochanan schüttelte sich, denn er musste an den Tag denken, an dem Medardus Holzinger Lea und ihn auf den Scheiterhaufen hatte bringen wollen. Die damalige Kebse des Markgrafen, jene Wirtstochter, hätte ebenfalls diesen Tod für sie gefordert und ihn genossen wie ein Schauspiel.
Ketura stimmte ihrem Bruder eifrig zu. »Du hast das einzig Richtige getan, Lea. Schuld daran, wie es gekommen ist, tragen deine Geschwister.«
»Nur selten ist jemand allein für so eine Situation verantwortlich«, wandte Lea ein. »Einen Teil meiner Schuld dürfte ich mittlerweile jedoch abgetragen haben. Elieser verbleibt ein hübsches Vermögen, mit dem er, wenn er es geschickt einsetzt, seinen Reichtum vermehren kann. Nur um Rachel tut es mir Leid. Ich hätte ihr rechtzeitig einen Mann suchen müssen.«
Sarah schnaubte. »Glaubst du, sie hätte dir gehorcht? Deine Schwester zog es vor, eine große Dame zu spielen. Eine fromme und arbeitsame Frau zu werden, danach stand ihr nie der Sinn. Wo sie jetzt ist, dürfte sie glücklicher sein denn als Ehefrau eines braven Juden.«
Während des Gesprächs hatten sie den Grenzstein erreicht, der das Ende der Hartenburger Herrschaft: anzeigte. In der Dunkelheit war das Wappen ebenso wenig zu erkennen wie das auf dem Grenzstein, der dahinter auftauchte. Lea wusste jedoch, dass sie die habsburgische Herrschaft Ortwil erreicht hatten.
Sie wandte sich zu ihren Begleitern um und wies auf die beiden schattenhaften Stelen. »Der erste Teil unserer Flucht ist gelungen. Wir werden bis zum Morgengrauen weitergehen und uns dann im Wald ein Versteck suchen. Dort werde ich mich umziehen und in der nächsten Stadt andere Kleidung für euch besorgen oder wenigstens Stoff und Nähzeug, damit ihr euch etwas anfertigen könnt. Denkt daran: Keiner von uns darf als Jude erkannt werden.«
Sarah war entsetzt. »Aber Lea, sollen wir uns etwa als Christen verkleiden?«
»Ja!« Lea wusste, dass sie auf die Gefühle der anderen keine Rücksicht nehmen durfte, wenn ihre Flucht glücklich enden sollte. »Ab dem heutigen Tag sind wir keine Juden mehr, sondern Ausgestoßene, die die Gesellschaft unserer Glaubensgenossen meiden müssen. Kämen wir zu einer jüdischen Gemeinde, würden die Ältesten uns sofort zu Ruben ben Makkabi zurückschicken oder uns sogar wie Diebe behandeln, weil ich einen Teil meines sauer verdienten Geldes mitgenommen habe. Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als unter Christen zu leben. Wir werden den Sabbat nicht mehr so ehren können, wie es unsere Pflicht wäre, und unsere Festtage nur noch heimlich feiern dürfen.«
Ketura und Jochanan stimmten bedrückt zu, während Sarah und Gomer aufschluchzten und abwehrend die Hände hoben. Doch nach einer kurzen, aber heftigen Diskussion war allen klar, dass Lea die Wahrheit sprach. Es gab keinen Weg zurück.
Als eine verbissene Stille eintrat, hob Jochanan den Kopf. »Vielleicht kann Herr Fischkopf uns helfen. Er hat doch schon Leute unterstützt, die sich neu ansiedeln mussten.«
Lea atmete tief durch. Mit genau diesem Entschluss hatte sie in der letzten Stunde gerungen. »Du hast Recht, Jochanan. Wir werden zu Orlando gehen.«
O rlando starrte durch das Fenster auf den Hafen, ohne die Schiffe zu sehen, die dort lagen. Er fühlte sich leer und entschlusslos und hatte überdies ein schlechtes Gewissen, weil er seinem Vater einfach nicht gehorsam sein konnte. Ein paarmal hatte er sogar schon überlegt, auf und davon zu gehen, Lea aufzusuchen und sie zu überreden, ein neues Leben mit ihm anzufangen, irgendwo in einem fernen Land, wo sie keiner kannte. Aber wenn er seine Familie verließ, würde sein Vater ihn verstoßen, und er musste als heimatloser Bettler und als ein ehrloser, pflichtvergessener Sohn, der seinen Eltern die gebührende Achtung und die Unterstützung im Alter verweigerte, vor die Frau treten, die er liebte. Lea war eine fromme Jüdin und würde ihm diesen Schritt höchst übel nehmen, selbst wenn es ihm gelang, sie von seinen ehrlichen Absichten zu überzeugen. Blieb er aber hier, konnte ihn nur ein Wunder vor einer Ehe mit einer ungeliebten Frau bewahren.
Das ihm aufgezwungene Weib tat ihm jetzt schon Leid, denn es würde höchstwahrscheinlich kein gutes Leben an seiner Seite haben. Für ihn konnte eine andere Frau niemals mehr sein als ein Gefäß, in das er seinen Samen legte, um einen Sohn oder, besser gesagt, einen Enkel für seinen Vater zu zeugen. Je länger er hier oben eingesperrt war, umso stärker sehnte er sich nach Lea und umso sicherer war er, dass sie die Einzige war, mit der er sein Leben teilen wollte.
Orlando war nicht bereit, seinem Vater nachzugeben, und verharrte wochenlang in brütendem Selbstmitleid.
Eines Tages aber spürte er, wie sein Widerstand bröckelte. Die Enge seines Zimmers begann ihn in den Wahnsinn treiben und ließ es ihm besser erscheinen, seinem Vater den Gefallen zu tun und mit einer der ihm angebotenen Frauen den erwarteten Enkel zu zeugen. Gleichzeitig aber schwor er sich, an dem Tag, an dem er ihm ein gesundes Kind in die Arme legen konnte, auf und davon zu gehen und als einfacher Matrose auf einer Kogge oder Karacke anzuheuern, die möglichst weit weg fuhr, vielleicht sogar zu den wilden Küsten Afrikas, von denen viele Schiffe nicht zurückkamen. Gerade, als er sich ausmalte, wie er dort im Kampf mit einem der sagenhaften Ungeheuer fiel, die jene Landstriche besiedeln sollten, entfernte jemand den Balken, mit dem man seine Tür versperrt hatte. Alisio trat mit einem Gesicht ein, als hätte er alle Sabbatküchlein gestohlen.
»Ich weiß nicht, ob Don Manuel billigen wird, was ich hier tue, junger Herr, doch es sind Gäste für Euch angekommen.«
Orlando verzog das Gesicht. »Gäste? Nein, danke. Sag ihnen, sie sollen sich zum Teufel scheren.«
Der Diener zog den Kopf ein, ließ sich aber nicht verscheuchen.
»Sie wollen Euch unbedingt sprechen, Don Orlando, und behaupten, es wäre dringend.«
Orlando zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich waren es irgendwelche Conversos, die sich auf eigene Faust ins Reich durchgeschlagen hatten und nun seine Hilfe benötigten. Vielleicht war es gut so, denn dieser Zwischenfall würde das Unvermeidliche noch ein wenig aufschieben. Er verließ seinen Platz am Fenster und folgte Alisio nach unten.
Seine Eltern standen auf dem Treppenabsatz über der Eingangshalle und starrten sichtlich verwirrt auf die
Fremden, die am Fuß der Treppe warteten. Als Erstes entdeckte Orlando eine junge, breit gebaute Frau mit einem etwas derben Gesicht, die ein ebenso schlecht sitzendes Kleid trug wie ihre zierliche Begleiterin, die sich ängstlich an sie klammerte. Hinter ihnen tauchten eine ebenso verschreckt wirkende, ältere Frau auf und zwei Männer, von denen Orlando von seinem Standort aus jedoch nur die Beine sehen konnte.
Sein Vater warf ihm einen fragenden Blick zu. Orlando zuckte irritiert mit den Schultern. Inzwischen hatten auch Baramosta und dessen jüngere Tochter die Halle betreten. Bianca warf nur einen Blick auf die Besucher und stieß einen Jubelruf aus. Zu Don Manuel gewandt zeigte sie auf einen der Männer. »Das, Onkel, ist Don Leon de Santiago, unser Retter!«
Orlando riss es beinahe von den Füßen. Ungläubig stürmte er die Treppe hinab und sah Lea mitten in der Halle stehen. Sie trug immer noch die kleidsame Tracht eines kastilischen Edelmanns. Einen Moment starrte er sie fassungslos an. »Bei Gott, Lea! Du bist es wirklich.«
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