«Meine Berechnungen können nicht trügen. Es ist zu schaffen, daß wir die Mello-Schlucht auffüllen und die Lücke schließen, die die Stadt Davids von dem Platz trennt, auf dem der Tempel erbaut werden soll. Auf diese Weise bekommen wir einen sanften Hang, auf dem wir das Material leichter heranschaffen, außerdem verbindet er die Unterstadt mit dem neuen Stadtkern.»
Der König prüfte den Plan, den der Baumeister in den Sand zeichnete. Die Vision war so einfach wie überwältigend. Sie drängte sich geradezu auf; sie war selbstverständlich. Wie Salomo geahnt hatte, würde der Tempel allein durch sein Dasein ein neues Jerusalem schaffen, ein himmlisches Jerusalem, wie es den Gerechten in der Schrift versprochen worden war.
Hiram dachte an die gewaltige Arbeit, die der Erschaffung der Pyramiden von Gizeh vorausgegangen war: Man hatte viele Morgen höhergelegenes Land auswählen, riesige Steinbrüche anlegen, die Ebene abgleichen und ausgleichen, Zufahrtsrampen und Hebelvorrichtungen schaffen müssen, deren Geheimnis man nicht preisgegeben hatte, dann eine strenge Organisation der Baustelle organisieren müssen, auf der eine große Zahl von Handlangern und eine kleine Zahl von Landvermessern und Steinhauern arbeiteten. Einen Felsvorsprung durch Aufschüttung mit einem bewohnten Abhang zu verbinden, das erschien im Vergleich zu den einstigen Wundertaten fast als eine leichte Aufgabe.
«Setzt du dabei nicht das Leben deiner Arbeiter aufs Spiel?»
Der Oberbaumeister bedachte Salomo mit einem gereizten Blick.
«Willst du mir eine solche Niedertracht unterstellen? Falls es sich so verhielte, würde ich auf der Stelle mein Amt abgeben. Die Sicherheit der Männer, die unter meiner Aufsicht arbeiten, hat immer Vorrang. Sollte man mir Unfälle zur Last legen können, darfst du mich unverzüglich entlassen.»
Es tat Salomo leid, daß er Hiram gekränkt hatte.
In der darauffolgenden Stunde versammelte der Oberbaumeister die Hunderte von Arbeitern, die bereits auf der Baustelle eingetroffen waren. Die Nebengebäude breiteten sich immer weiter um den schlichten Kern aus, dessen Mittelpunkt die Zeichenwerkstatt war. Einige hatten bereits Erfahrung, andere arbeiteten hier zum ersten Mal. Hiram unterstellte sie den Arbeitern, die er in Ezjon-Geber ausgebildet hatte. Es war noch zu früh, als daß er sie nach den rituellen Graden einteilen konnte, wie man sie in Ägypten kannte. Hiram erteilte jeden Tag seine Anweisungen und konnte sie so ständig überwachen. Er merkte sich Mutige, Faule, Aufmerksame, Schlampige, Fähige und Unfähige. Um die Schlucht aufzufüllen, brauchte man keine besonderen Fähigkeiten, nur eine vollendete Organisation. Daher ernannte Hiram Werkmeister, die seine Befehle ausführen konnten.
Einige Wochen später hatte sich Jerusalems Aussehen verändert. Der Felsen thronte nicht mehr in prachtvoller Einsamkeit, sondern war durch einen langgezogenen Hang erreichbar geworden, der bei den ersten Häusern der Unterstadt endete. Jedermann war stolz auf das Ergebnis und spürte, daß Salomos Traum Wirklichkeit werden könne. Hiram hatte den wilden Fels gezähmt und seine Beschaffenheit verändert. Die hochmütige Felsspitze wurde zur bescheidenen Grundlage des zukünftigen Heiligtums.
Salomo war auf keinen Widerstand gestoßen. Es hatte keine Fehlschläge gegeben, keine Proteste in der Bevölkerung. Israel wurde von einer magischen Welle zu einem neuen, leuchtenden und herrlichen Horizont getragen. Von den benachbarten Landstrichen trafen Glückwünsche ein. Der von Salomo angestrebte Frieden wurde von Tag zu Tag dauerhafter. Der mit Ägypten geschlossene Nichtangriffspakt, die Anwesenheit einer Pharaonentochter am israelitischen Hof schreckten Aufrührer davon ab, sich offen zu zeigen.
Begann jetzt eine Ära des Glücks? Nahm die heilige Stadt auf dem Jerusalem bekrönenden Felsen Gestalt an? Neuer Glaube erblühte in den Herzen. Wenn es nicht gottlos gewesen wäre, einen Menschen als Gott zu verehren, man hätte Salomo angebetet.
Hiram hielt sich im Schatten und gönnte sich weder Ruhe noch Ablenkung. Er ging in seiner Arbeit auf, denn er mußte gute Arbeiter ausbilden, und erhoffte sich, daß aus ihnen die hervorragenden Handwerker würden, die er demnächst brauchte. In Israel konnte er sich nicht auf die von den Landvermessern der ägyptischen Tempel geduldig ausgebildeten Lehrlinge verlassen. In wenigen Monaten mußten die hiesigen Arbeiter etwas anwenden, was die Schüler in der Regel in mehreren Jahren erlernten. Das beunruhigte ihn an diesem verrückten Unterfangen am meisten: Er mußte sich darauf verlassen, daß einige von ihnen eine besondere Begabung zeigten und dann vor Ort eine Lerngemeinschaft bildeten. Wie gern hätte Hiram die Hilfe von anderen Oberbaumeistern gehabt! Aber das war ein frommer Wunsch. Die Bruderschaft des Steins hatte ihm die Wirklichkeit gezeigt, Träume, daß er Hilfe bekam, waren reine Zeitverschwendung.
Der Oberbaumeister brachte es auf eine Liste mit gut fünfzig Namen. Das waren die Lehrlinge, die er in die Wissenschaft des Tempelbaus, die Handhabung der Werkzeuge und das Verlegen der Steine einführen würde. Er schrieb gerade, als der Widerhall eines Aufruhrs am einzigen Zugangstor an sein Ohr drang.
Jemand wollte sich gewaltsam Zutritt zur Baustelle verschaffen.
Gebell begrüßte den herannahenden Oberbaumeister. Hiram erkannte das Gekläff seines Hundes, der sich bis zu ihm durchgeschmuggelt hatte, während Kaleb von mehreren Arbeitern festgehalten wurde. Die Hilferufe des Hinkefußes waren nicht vergeblich. Hiram bewahrte ihn vor den groben Händen, die ihn mißhandeln wollten.
«Weißt du denn nicht, daß dieser Platz für Unbefugte verboten ist?»
«Ich muß mit dir reden, mein Fürst! Deinen Hund, ja, den läßt du ein…»
Und dann stürzte sich Kaleb in eine lange Jeremiade, beschwerte sich, daß man ihn verlassen hätte, daß er fröre, daß er seine Bedürfnisse nicht mehr bestreiten könne, daß er elend zugrunde ginge, daß Jahwe höchstpersönlich ihn verdammt hätte.
Hiram unterbrach den Redefluß und führte ihn bis zu einem Gebäude, das verschlossen war. Er sperrte die Tür auf. Kaleb sah einen Raum, der zweimal so lang wie breit war und dem drei vergitterte Fenster Licht spendeten.
«Wenn du auf die Baustelle willst, mußt du eine Prüfung machen. Hier und jetzt.»
Kaleb fuhr einen Schritt zurück.
«Mein Leben… ist mein Leben dabei in Gefahr?»
«Gefährlich ist sie durchaus», bekannte Hiram.
«Aber du hilfst deinem Diener doch wohl?»
«Das verbieten die Vorschriften der Baustelle.»
«Diese Prüfung… ist sie unerläßlich?»
«Unerläßlich.»
Kaleb trat wieder einen Schritt vor.
«Ich möchte lieber nichts sehen.»
«Wie du willst.»
Alsdann verband Hiram dem Hinkefuß die Augen.
«Bleib schön am Fleck», befahl er.
Der Oberbaumeister betrat den Prüfungsraum, in dessen Mitte er zwei würfelförmige Blöcke aufeinandertürmte. Dann lehnte er ein langes, schmales Brett daran und kehrte zu Kaleb zurück.
«Nimm meine Hand», sagte er. «Hab keine Angst. Wenn du mutig bist, überlebst du.»
Kaleb zitterte am ganzen Leib.
Beim Gehen verstärkte sich sein Hinken. Auf einmal hatte er den Eindruck, es ginge einen steilen und glatten Abhang hoch. Hiram ließ ihn los.
«Ich habe Angst!» schrie Kaleb.
«Weiter», riet ihm Hiram, «nicht zurückgehen!»
Das Brett schaukelte unter Kalebs Schritten. Er verlor das Gleichgewicht, stieß einen verzweifelten Schrei aus, fiel vornüber und war sich gewiß, daß er sich den Hals brechen würde.
Hiram fing den Hinkefuß auf, ehe er den Boden berührte. Er setzte ihn hin, stellte Steine und Brett an der Mauer auf und nahm ihm die Augenbinde ab.
«Du hast bestanden. Von jetzt an gehörst du zur Bruderschaft.»
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