Der Herrscher hatte die Zahl der unerläßlichen Arbeitsstärke festgelegt: achtzigtausend Steinhauer, sechzigtausend Träger, dreißigtausend Handwerker wurden der Baustelle auf Dauer zugeteilt. Er verlangte, daß sich jeder Israelit im Verlauf eines Jahres irgendwie an dem großen Werk beteiligte. Der Tempel sollte eine Schöpfung des ganzen Volkes sein.
Diese radikale wirtschaftliche Veränderung bedeutete, daß neue Steuern erhoben werden mußten und daß Arbeit im Frondienst nationale Pflicht war. Daß es zu einem Volksaufstand kommen konnte, diese Gefahr mußte man eingehen. Der König machte sich anheischig, derlei zu meistern.
Hiram äußerte seine Forderungen. Stoffverkäufer und Schneider sollten Tausende von Kittelschürzen aus grober Wolle fertigen, die sich die Handlanger um die Lenden binden konnten. Für die Werkmeister sollten Gerber Schürzen aus rotgefärbtem Leder machen; die Gesellen und Lehrbuben bekamen weiße. Die Maurer sollten mit Matten, Sieben, Pfählen, Holzhämmern, Hacken, Hebeln, Ziegelformen, Beilen, Dechseln, Sägen und Sticheln ausgestattet werden. Die kupfernen Stechbeitel würden aus den Lagern von Ezjon-Geber kommen. Hiram selbst wählte die Steinbrecher aus, die mit der Spitzhacke Basalt- und Kalksteinblöcke heraushauen sollten. Er würde die Steinmetze unterweisen, die sich bislang damit begnügt hatten, Mühlsteine oder Pressen zu meißeln. Die besten unter ihnen, die geschickt mit dem Polierwerkzeug umgehen konnten, hatten die Häuser der Reichen errichtet. Doch keiner hatte die Geheimnisse der Kunst des Bauzeichnens ergründet. Holzschnitzer, die auf eigene Rechnung in jedem Dorf arbeiteten, würden von Hiram zu Schreinern umgeschult werden, die lange Balken legen und komplizierte Gerüste bauen konnten. Blieb nur noch übrig, die Maurer auszubilden, die nicht nur die Wände aufmauern, sondern auch Meßschnüre, Wasserwaage und Lot handhaben sollten, damit aus der Zeichnung ein Bau wurde. Etliche phönizische Fachleute, die sich an der Küste niedergelassen hatten und von Salomo angefordert worden waren, würden ihnen dabei helfen.
Der König und der Oberbaumeister waren sich bewußt, daß sie vor einer heldenhaften Aufgabe standen. Der Tempel würde das ganze Land auf den Kopf stellen und zweifellos auch die angrenzenden Landstriche. Er würde die Vergangenheit auslöschen und die Zukunft an Gottes Ruhm und Ehre festmachen.
«Die Baustellen unterstehen nur dir, Meister Hiram. Was die Frondienste angeht, so sollen sie von dem besten hebräischen Baumeister organisiert werden.»
Hiram billigte diesen Entschluß. Es war nicht seine Aufgabe, die Handlanger einzustellen und zu überwachen.
«Wer ist das?»
«Der, der meine Pferdeställe erbaut hat, Jerobeam.»
Seit der Befestigung Jerusalems war die Landschaft nicht mehr so stark verändert worden. Bauern, die kleine Gärten gehabt hatten, waren vertrieben worden. Sie lobten und priesen Salomo, weil er ihnen in einer nahe gelegenen Gegend Gehöfte und Äcker zugewiesen hatte. Hiram hatte mit den Schreinern einen hohen Zaun errichtet, der Unbefugten die Tempelbaustelle verbarg. Ein einziges Tor, das Tag und Nacht bewacht wurde, gab Zugang. Jeder Arbeiter erhielt das Erkennungswort von Hiram höchstpersönlich.
Innerhalb des Zauns hatte der Oberbaumeister mehrere Ziegelsteingebäude errichten lassen: Werkzeuglager, Schlafsäle, Speiseräume und Lagerhäuser für Nahrung und Kleidung. Das wichtigste allerdings war die Zeichenwerkstatt, wo Hiram fast seine ganze Zeit verbrachte. Eine Kiste aus Kiefernholz enthielt die Schiefertafeln, auf denen er die Entwürfe machte, die andere Papyrusrollen mit den gezeichneten, endgültigen Plänen. Der Baumeister heftete die Blätter eigenhändig zusammen, alsdann rollte er sie um einen Zylinder und bekam damit einen Papyrus von ungefähr hundert Ellen Länge. Wenn er den auf dem Fußboden ausrollte, sah er die Bauzeichnung für das Meisterwerk. Da Hiram von Anfang an mitarbeitete, kam er selten in die Höhle zurück, wo er sich so wohl fühlte. Sein Hund Anup geriet dann vor Freude außer sich und jaulte, wenn er ihn wieder verließ. Kaleb, der Hinkefuß, wurde darüber immer unwirscher. Gewiß, er genoß Unterkunft und Verpflegung, hatte endlich ein Dach über dem Kopf, und das war nicht gering zu achten. Aber er trauerte noch immer dem schönen Haus in Jerusalem und dessen Annehmlichkeiten nach. Jetzt war er gezwungen, den Hund zu füttern und über sein Wohlbefinden zu wachen, und das gefiel ihm gar nicht. Doch er fürchtete Hirams Zorn, sollte er ihn vernachlässigen.
Der Oberbaumeister arbeitete ganze Nächte durch, entwarf hundert Bauformen, von denen er bis auf zwei alle wieder verwarf. Er brachte die unerschöpfliche Energie auf, die man für ein solches Werk brauchte. Hiram und der zukünftige Tempel waren eins, er arbeitete an seiner Geburt wie an der eines lebendigen Wesens. Ein seltsames Fieber hatte ihn ergriffen, das alle Müdigkeit hinwegbrannte.
Als Schüler der Meister von Karnak wußte er um die Schwierigkeiten seiner Aufgabe: Er sollte ein Heiligtum schaffen, das Jahwe geweiht war, jedoch in Bauweise und Symbolik in der Nachfolge der ägyptischen Tempel stand. Übertragen, ohne Verrat zu begehen, weitergeben, ohne preiszugeben, den Himmel auf Erden darzustellen… Sein Ehrgeiz war riesengroß, die Aufgabe erdrückend.
Wieder ging eine arbeitsreiche Nacht zu Ende. Dieses Mal war Hiram so erschöpft, daß ihm die Hand nicht mehr gehorchte. Er legte seine Schreibbinse beiseite, säuberte die Näpfchen mit schwarzer und roter Tusche, rollte einen Papyrus zusammen und stapelte die Schiefertafeln, nachdem er sie numeriert hatte.
Als er aus der Zeichenwerkstatt trat, betrachtete er die Baustelle. Die verschiedenen Gebäude waren fast vollendet. Die Arbeiter schliefen. Hiram hatte es verstanden, ihnen Begeisterung einzuflößen, ihnen die Gewißheit zu vermitteln, daß sie an einem ungewöhnlichen Abenteuer teilnahmen. An diesem geschlossenen, geschützten Ort herrschte eine geheime Harmonie, die von den rauhen Gesellen, die Zusammenarbeit erst noch lernen mußten, von Stunde zu Stunde mehr geschätzt wurde.
Der Oberbaumeister kam an dem Wachposten vorbei, der gerade abgelöst wurde. Er strebte zum Fuß des Felsens und hob wieder einmal den Blick zum Gipfel. Die Arbeit mußte dort oben beginnen, auch wenn das Unterfangen scheinbar nicht zu verwirklichen war.
Pferdegalopp störte die leichte Luft der Morgendämmerung.
Jerobeam hielt zwei Ellen vor dem Baumeister und sprang zu Boden. Der rote Riese war wütend.
«Der König hat mir die Verantwortung für die Frondienste übertragen», verkündete er. «Ich bin ein treuer Diener, ich gehorche, aber von dir nehme ich keine Befehle entgegen.»
«Das geht nicht», sagte Hiram. «Die Fronarbeit unterliegt keiner willkürlichen Entscheidung, sondern gehört zum Arbeitsplan. Das dürfte Salomo auch so gesagt haben. Du bist mir jeden Tag Rechenschaft schuldig. Ich will wissen, wieviel Männer genau eingestellt sind und was sie tun. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift, und du bist abgesetzt.»
Jerobeam war beeindruckt von Hirams strengen Worten und begriff, daß der Oberbaumeister eine Amtsstellung innehatte, die sich nur schwer erschüttern ließ. Einfache Drohungen richten da nichts aus.
«Du bist ein herrschsüchtiger Mensch, Meister Hiram.»
«Das erfordert mein Amt. Willst du mir dienen, mir wirklich dienen, wie es der König fordert?»
«Dessen kannst du gewiß sein», bekräftigte Jerobeam, doch sein haßerfüllter Blick strafte seine Worte Lügen.
Irgendwann fragte sich Salomo, ob sein Oberbaumeister nicht etwa wahnsinnig geworden wäre. Das Projekt auf dem Felsengipfel, das er ihm darlegte, war wider alle Vernunft.
«Bist du dir sicher, daß es nicht eine Katastrophe wird?»
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