Kaleb rang noch immer nach Atem.
«Wenn es noch andere Prüfungen wie die da gibt», erklärte er, «dann verzichte ich lieber.»
«Beruhige dich. Ich habe eine ganz bestimmte Aufgabe für dich.»
«Und welche?»
«Du wirst auf der Baustelle meine Augen und Ohren sein. Du gehst überall herum, du beobachtest, du hörst zu. Dein Gedächtnis ist hervorragend. Du sollst zwar nicht verpfeifen, aber vergiß die Lobreden. Berichte mir von Kritik und Unzufriedenheit.»
An der Tür zum Prüfungsraum klopfte Anup fröhlich mit dem Schwanz und wartete auf Hiram. Er hüpfte ihm in die Arme, denn auch er verstand sich aufs Auflauern. So war Hiram nicht mehr ganz allein. Auf diese beiden Aufpasser konnte er zählen.
Kaleb machte sich auf Hirams Anordnung hin nach und nach mit jedem Arbeiter bekannt, der auf der Liste des Oberbaumeisters stand. Er gab ihnen das Erkennungswort ‹Meine Kraft ist die des Herrn› und rief sie im Prüfungssaal zusammen. Bei hereinbrechender Nacht stellten sie sich dort ein, und Hiram befragte und umarmte sie. Als sie alle in der nordöstlichen Ecke versammelt waren, erklärte er ihnen, was er von ihnen verlangte: Sie sollten nicht nur genausoviel arbeiten wie ihre Gefährten, sondern auch noch in die Kunst des Bauens eingeführt werden, und das zu einer Zeit, wenn die übrige Baustelle ruhte. Was sie sahen und hörten, unterlag der Schweigepflicht, und die zukünftigen Schüler mußten schwören, bei Todesstrafe nichts davon weiterzugeben.
Drei darunter verzichteten lieber und verließen die Versammlung. Die anderen schworen. Die Unterweisung begann unverzüglich. Kaleb stand in eine Wolldecke eingemummt draußen vor dem Gebäude Wache. Anup half ihm bei der Arbeit.
Die Arbeiter setzten sich auf den Fußboden. Hiram gab ihnen Schiefertafeln und Kreide. Geduldig lehrte er sie die Zeichen der Baumeister-Bruderschaft, Punkt, gerade Linie, Viereck, Rechteck… Er bestand auf einer sicheren Hand, die mit einem einzigen Strich vollendet zeichnete. Darauf machte er ihnen klar, daß auch der menschliche Körper gemäß geometrischer Proportionen gebaut war und für das Wirken eines göttlichen Baumeisters zeugte. Er erlaubte ihnen, die Ewigkeit der vom Geist erschaffenen und der Hand übermittelten Formen zu erfahren. Zum Schluß teilte er ihnen die wichtigsten Gebote der Baumeisterregel mit: Arbeiten für den Ruhm des Schöpfungsprinzips, kein Streben nach persönlichem Gewinn, Wahrung der Interessen der Bruderschaft, Schweigen und Behandlung der Werkzeuge wie lebendige Wesen.
Während die Zufahrtsstraße zum Felsen und seine Planierung vorangingen, erteilte Hiram einen gedrängten Unterricht. Die Neulinge waren zwar nicht alle gleichermaßen begabt, zeigten aber denselben guten Willen und wollten Fortschritte auf dem vom Oberbaumeister vorgezeichneten Weg machen. Nachdem sie ihn zunächst gefürchtet hatten, wuchs ihre Bewunderung von Mal zu Mal. Der Baumeister verstand sich darauf, jeden seiner Schüler so anzusprechen, wie es ihm zukam. Streng, unnachgiebig, unnachsichtig bei Erlahmen, jedoch begeistert, wenn ein neuer Schritt geschafft war.
Zwei Monate später hatten sie den Eindruck, in einer anderen Welt zu leben. Sie sprachen eine andere Sprache, fühlten sich als Brüder, teilten dasselbe Ideal, dieselben Geheimnisse und dieselben Pflichten. Hiram hatte sein erstes Ziel erreicht: Er hatte in einer kleinen Gruppe, die dazu bestimmt war, die anderen Arbeiter anzuleiten, einen inneren Zusammenhalt hergestellt.
Ein entscheidender Schritt kündigte sich an, nämlich die rituelle Lehrlingsfeier. Die Zeremonie fand eines Nachts bei Vollmond statt und dauerte bis zum Morgengrauen. Jeder Neuling wurde nach einer vorübergehenden Isolation vor einen vom Oberbaumeister winklig behauenen Stein gestellt und gelobte, das große Werk weiterzuführen und in Demut am Bau des Tempels mitzuarbeiten. Die völlig nackten Lehrlinge wurden mit reinigendem Wasser bespritzt. Und nachdem sie Blutsbruderschaft geschlossen hatten, ließ Hiram sie die Flamme einer Fackel betrachten, die dazu diente, die Wunden auszubrennen.
Als der Oberbaumeister seinen Lehrlingen die weiße Lederschürze umband, gab er jedem einen neuen Namen, das Symbol ihrer Wiedergeburt im zukünftigen Tempel, dessen lebendige Steine sie sein würden.
Berauscht von Müdigkeit und Glück, schliefen die Schüler ein. Kaleb hatte sein Lager aus frischem Stroh aufgesucht und freute sich, daß die mühselige Zeit des Unterrichtens ein Ende hatte. Anup schlief auch. Die Baustelle lag verlassen. Sie belebte sich wieder mit den ersten Sonnenstrahlen, wenn die Sterne in den Riesenleib der Witwe von Osiris, nämlich Isis mit der Sternenkrone, zurückkehrten und die Welt in unsichtbares Licht hüllten.
Hiram grüßte den Wächter auf der Schwelle und trat durch den Umfassungszaun. Er ging an den Zelten vorbei, in denen sich die Gruppen der Zeitarbeiter aufhielten, die man für die Frondienste angefordert hatte. Auf die stille Leere würde schon bald wilder Aufruhr folgen. Das Lager endete in einer mit Gestrüpp bestandenen Gegend, wohin sich nur Füchse wagten.
Vor einem abgestorbenen Baum stand eine Frau in langem, weißem Gewand, der die schwarzen Haare auf die Schultern fielen.
«Ich bin Israels Königin», sagte Nagsara. «Und bin gekommen, weil ich deine Baustelle besuchen will, Meister Hiram.»
«Nur dieser Teil ist zugänglich, Majestät.»
«Warum dieser Zaun, warum diese Geheimniskrämerei?»
«So fordert es unsere Regel.»
«Und läßt die keine Ausnahme zu?»
«Keine.»
«Ich habe auch ein Geheimnis. Aber ich bin nicht so geizig wie du.»
In der blaurosigen Morgendämmerung meinte Hiram, eine schattenhafte Gestalt zu sehen, die sich hinter ein Zelt schlich. Da er keinerlei Geräusch hörte, handelte es sich wohl um eins der letzten Nachtgespenster, das ins Nichts zurückkehrte.
Nagsara trat ganz nahe an den Oberbaumeister heran. Sie entblößte ihre Kehle.
«Da, sieh», sagte sie. «Die Götter haben deinen Namen in mein Fleisch gebrannt. Warum? Welches Geheimnis hütest du, daß ich darunter leiden muß?»
Die Lettern leuchteten, als würde die weiße Haut der Königin von einem Feuer erhellt, das in ihren Adern rann. Hiram hatte die kleine Nagsara nur auf Festen gesehen, wenn der Pharao umgeben von seiner Familie vor das Volk trat. Jetzt entdeckte er eine junge Frau von zerbrechlichem Reiz, die wie er zur Verbannung verurteilt war, jedoch mit Salomo zusammenlebte, dem Mann, der einem ägyptischen König ebenbürtig war. Wen hätte diese entblößte Schönheit in der milden, morgendlichen Klarheit nicht beunruhigt, diese unwirkliche Vision einer Königin, die sich nicht scheute, ein Wunder vorzuzeigen.
Nagsara merkte, daß Hiram besorgt war. Sie bedeckte ihren Hals und legte die Hände auf die Brust des Oberbaumeisters.
«Mein Schicksal ist unauflöslich mit deinem verbunden», sagte sie. «Ich muß dieses Rätsel lösen. Weigerst du dich, mir zu helfen?»
«Die Götter mögen mich vor Feigheit bewahren.»
Nagsaras Handflächen waren weich. Hiram wünschte sich, der Augenblick möge länger dauern, doch die Königin wurde sich jählings ihrer Tollkühnheit bewußt und trat zurück.
«Wir sehen uns im Palast wieder. Israel hat viele Propheten. Einer von ihnen wird den Schleier lüften.»
Die weiße Gestalt schien sich in der Staubwolke aufzulösen, die der Wüstenwind aufwirbelte. Hiram schloß die Augen. Was hatte diese Erscheinung zu bedeuten? Bislang hatte er nur gegen Salomo und sich selbst kämpfen müssen. Der Tempel hatte Besitz von seiner Seele ergriffen und ihn die Außenwelt vergessen lassen. Nagsara erinnerte ihn an Liebschaften am Nilufer, in Papyrusdickichten, an leidenschaftliche Begegnungen in Palmenhainen, in denen zahme Affen von Baum zu Baum hüpften. So heiß, so kurz war seine Jugend gewesen…
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