Salomo hatte angenommen.
Falls Hiram diesen Ritus vollzog, falls er damit den Tempel ins Leben rief, konnte er das Werk nicht mehr verlassen. Ein Baumeister, der ein Heiligtum erbaute, weihte ihm sein Leben.
Hiram hatte alles versucht, um Salomos Zorn zu erregen. Israels König war bei seiner Wahl geblieben. Wie der Oberbaumeister folgte er der Stimme seines Herzens und blieb nicht vor scheinbar unüberwindbaren Hindernissen stehen.
Falls Hiram Salomos Oberbaumeister werden wollte, falls er das Amt übernehmen würde, das Pharao Siamun ihm anvertraut hatte, würde er der einsamste aller Menschen sein. Denn wen könnte er um Rat fragen, wem könnte er seine Zweifel und Fragen anvertrauen? Die Baumeister von Karnak waren in weiter Ferne, in der strahlenden Gelassenheit des Tempels in Oberägypten. Und da Hiram gezwungen war, das Geheimnis seiner Herkunft zu wahren, seinen wahren Namen zu verschweigen, die Härte der Verbannung zu ertragen, wie sollte er jahrelang unter solch einer Last leben? Auf diese Tragödie hatte man ihn nicht vorbereitet, denn er war in einer Gemeinschaft von Priestern ausgebildet und in seinen Beruf durch eine zuweilen rauhe Bruderschaft eingeführt worden, die über die alltäglichen Aufgaben im Haus des Lebens wachte. Auch auf diese Freuden mußte er verzichten. Hiram würde eine große Schar hebräischer Arbeiter befehligen, durfte jedoch mit niemandem Freundschaft schließen.
Da saß er nun im Schein einer milden Herbstsonne unter einem Feigenbaum in der Stille der judäischen Landschaft und hätte am liebsten aufgegeben.
Die Kluft zwischen der Zukunft eines ägyptischen Oberbaumeisters, dem ein beschauliches Alter winkte, und der eines Baumeisters für Salomo, der vor einer unmöglichen, offenen Frage stand, war einfach zu groß. Wie konnte er auf die Schönheit der schwarzen und fruchtbaren Erde am Nilufer verzichten, auf die erregende Wüste, auf den geliebten Nordwind?
Hatte er sein Ziel nicht erreicht, war er nicht einer der Baumeister des Pharaos, ein Arbeiter an der Seite seiner Brüder in der Harmonie im Haus des Lebens geworden, hatte er nicht Tag für Tag Steine für die Ewigkeit verschönt, denen die Leiden der Menschen einerlei waren? Kein anderer Ehrgeiz wohnte in seiner Brust. Warum zwangen ihn die Götter, auf Glück zu verzichten, dem König eines fremden Landes zu dienen und ein Heiligtum zu Ehren einer Gottheit zu bauen, die sein Herz nicht anrührte?
Wer aufgab, mußte sich seine Schwäche eingestehen. Wenn er Ägypten wiedersehen, erneut die Brise spüren wollte, die die Segel der Schiffe blähte, dann erforderte das ein Opfer. Hiram spürte, daß er nicht bereit war, diese Schande vor seinen Brüdern einzugestehen.
Vor Salomo wollte er auch nicht so dastehen.
Nachdem er dem König getrotzt, ja, ihn fast verabscheut hatte, teilte Hiram mittlerweile seine Leidenschaft. Wie er war auch Salomo allein. Allein trotzte er einem ganzen Volk, der Priesterkaste, den Höflingen, den Bräuchen. Allein wollte er ein Meisterwerk erschaffen, auch wenn es ihn den Thron kostete.
Salomo war der letzte, dem sich Hiram anvertrauen konnte, doch er verkörperte diesen feurigen Willen, der auch den jungen Ägypter so wißbegierig gemacht hatte. Diese beiden Männer waren Brüder, selbst wenn das menschenunmöglich war.
Hiram war so wütend, daß er am liebsten Zepter und Becher weit fortgeschleudert hätte.
Die spätnachmittägliche Sonne funkelte so hell auf ihnen, daß Kaleb aufmerkte. Der Hinkefuß kam näher, zögerte aber, sie anzufassen. Hirams Blick belehrte ihn eines Besseren.
Der Oberbaumeister betrachtete das Gold von Saba so starr und so eingehend, als könnte es ihm seine Zukunft entschlüsseln. Seine dunkelblauen Augen funkelten unruhig.
Als die letzten Sonnenstrahlen die Blätter des Feigenbaums golden färbten, stand Hiram auf. Niemand sollte sagen können, daß ein ägyptischer Baumeister vor Beendigung der Arbeit geflohen war.
Er würde den Tempel bauen, auch wenn es Salomos war.
Saturn thronte im Zenit; er würde das Bauwerk fest und dauerhaft machen. Salomo kam vom Palast, Hiram vom Land, und beide erreichten den Fuß des Felsens zur gleichen Zeit.
Der Oberbaumeister übergab dem König Zepter und Becher. Im Mondschein sah das rote Gold wie Silber aus.
Mit einem Bohrer, dessen Spitze sich schnell drehte, bohrte Hiram einen Hohlraum in den Felsen, in den er die kostbaren Gegenstände legte. Dann verschloß er ihn fest und benutzte dazu einen Mörtel, der sich gut anpaßte. Mit Ausnahme von Salomo und dem Oberbaumeister wußte niemand, daß Sabas Sonne der Kern von Jahwes Tempel war. Abgesehen von Hiram ahnte niemand, daß Ägypten die Mutter des größten Heiligtums in Israel war und daß der verborgene Gott der Pyramiden in Jahwe auferstand.
Salomo konnte seine Bewegung kaum verbergen. Den Zauberbüchern zufolge, die er zu Rate gezogen hatte, stimmte der von Hiram gewählte Platz mit der Pforte zu einer geheimen Welt überein. Hinter ihr begann ein Weg, der zu einem wassergefüllten Schlund führte, der die Mitte der Erde ausfüllte. Dort vereinigten sich die Geister der Toten, damit das Jenseits im Herzen des Hier anwesend war.
Der König war sich völlig sicher, daß das von Nagsara befragte Orakel nicht gelogen hatte. Wer anders als der vom Unsichtbaren auserkorene Baumeister hätte den Zufall im Griff haben können? Wer anders hätte genau im richtigen Augenblick so handeln können?
Salomo drehte den von Nathan geschenkten Rubinring an seinem Finger. Er richtete ein stummes Gebet an die Geister des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde, damit sie an der Erschaffung des Gebäudes genauso Teil hatten wie an der jedes Lebewesens. Er bat sie, Hüter auf der Schwelle des Heiligtums zu sein, es auf Dauer mit ihrer Gegenwart zu umgeben.
Hiram betrachtete den Gipfel des Felsens, der sein Schicksal werden sollte.
Salomo genoß die Freuden einer Geburt. Im vierten Jahr seiner Herrschaft würde man mit dem Bau des Tempels beginnen.
Salomos Zorn war so furchtbar, daß Elihap um sein Leben fürchtete, obwohl er sich des Vertrauens seines Gebieters sicher war. Noch nie hatte sich Israels König zu einem solchen Tobsuchtsanfall hinreißen lassen, denn das verdammten die Weisen. Unaufhörlich rief der Herrscher Jahwe als Rachegott an und versprach, die an Hirams Verschwinden Schuldigen zu bestrafen.
«Es gibt keine Schuldigen», protestierte der Schreiber schüchtern, als sich der König anscheinend beruhigte.
«Hiram ist unauffindbar, und niemand wäre daran schuld? Elihap, willst du dich über mich lustig machen?»
«Auf deinen Befehl hin haben Banajas und deine Elitesoldaten nach Hiram gesucht. Sie haben Häuser, Höhlen, Werkstätten und Speicher durchkämmt, aber nirgendwo eine Spur von ihm.»
«Und das Haus, in dem er gewohnt hat?»
«Leer.»
«Was sagen die Nachbarn aus?»
Elihap zögerte.
«Sprich», forderte Salomo.
«Sie haben Priester hineingehen sehen, die Gegenstände mitgenommen haben.»
Salomos eisiger Ton war genauso besorgniserregend.
«Der Hohepriester soll sich unverzüglich einfinden.»
Elihap beeilte sich, Zadok zu benachrichtigen.
Salomo durchmaß das Arbeitszimmer mit den schmalen Fenstern. Was ging in seiner Hauptstadt vor? Jetzt wartete er bereits drei Tage auf Hiram. Seit der heimlichen Zeremonie, mit der Fundamentlegung des Tempels hatte der Baumeister kein Lebenszeichen mehr gegeben. Ein übereilter Aufbruch war unvorstellbar. Hiram hatte durch diesen rituellen Akt sein Wort gegeben, daß er das von Salomo gewollte Unternehmen bis zum Ende durchführen würde. Der König kannte die Menschen so gut, daß er wußte, der Oberbaumeister würde seinen Schwur nicht brechen.
Wenn er nicht in den Palast kam, wurde er daran gehindert. Wie und von wem? Hoffentlich mußte er nicht das Schlimmste befürchten…
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