Wir mußten nach dem Abendessen strafexerzieren, drei Stunden lang, doch die Namen der "Rädelsführer" bekam Schweinebauch nicht heraus.
Am nächsten Tag waren die Loren wieder nur halb voll, und es stand auf ihnen: "Gemeinnutz geht vor Eigennutz — aber Tomaten kriegt nur die Leitung!" Schweinebauch ließ uns so lange in der prallen Sonne strammstehen, bis einige umfielen und in die Lazarettbaracke geschafft werden mußten. Dann bekam jeder zehnte Mann Arrest. Aber niemand verriet etwas. Auf den Loren stand: "Unsere Ehre ist Treue" verpfiffen wird niemand!"
Am Abend kam ein Fahndungskommando der SS und durchsuchte alle Spinde und Koffer. Jeder von uns wurde einzeln verhört, doch es kam nichts heraus. Als das Fahndungskommando unverrichteterdinge abzog, baumelte vom Torbalken herab eine halb verfaulte Tomate.
Drei Tage später wurde das Lager aufgelöst."
Ein ganzes Jahr lang lieferte die unter schärfster Gestapobewachung stehende Brünner Waffenfabrik Haubitzenrohre, die entweder schon beim Probeschießen oder an der Front nach wenigen Schüssen außer Dienst gestellt werden mußten.
Die Nazis, denen es weder durch Drohungen noch durch Spitzelei gelingen wollte, in Erfahrung zu bringen, wie diese Sabotage — denn um nichts anderes konnte es sich handeln — bewerkstelligt wurde, gelangten schließlich durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle auf die richtige Spur.
Der Trick, mittels dessen die Rohre unbrauchbar gemacht wurden, war ebenso einfach wie sinnreich. Die Arbeiter spritzten bei ihrem Mittagsimbiß, den sie wegen der von den Nazis verfügten Kürzung der Arbeitspause in den Werkstätten selbst einnahmen, jedesmal ein wenig Bierschaum auf die weißglühenden Kanonenläufe, woraufhin der Stahl, da er durch ungleichmäßiges Auskühlen seine Elastizität einbüßte, dem Druck der Abschußgase nicht mehr gewachsen war.
Der leitende Gestapokommissar ließ ein halbes Hundert Arbeiter erschießen und die doppelte Anzahl in die Konzentrationslager von Oslavan und Dachau schaffen, aber er wußte, und auch die Kameraden der Erschossenen wußten: gefährlicher als das auf die glühenden Haubitzenläufe gespritzte Mittagsbier war der Umstand, daß jeder einzelne der nahezu neuntausend Mann starken Belegschaft von diesem Geheimnis Kenntnis gehabt und es, aller Gefahr zum Trotz, bei sich behalten hatte.
Bei der Hinrichtung von vier Altonaer Arbeitern, die — bald nach Hitlers Machtantritt — zum Tode verurteilt worden waren, weil sie sich gegen schießende SA-Männer mit Schüssen gewehrt hatten, kam es zu einem Zwischenfall, von dem noch lange in allen Hafenkneipen, Fabrikkantinen und Mietskasernen Hamburgs gesprochen wurde.
Als man unmittelbar vor der Hinrichtung, zu der fünfundsiebzig Gefangene aus ihren Zellen geholt wurden, um das Sterben ihrer Genossen mit anzusehen, den jüngsten der Verurteilten, einen Neunzehnjährigen, fragte, ob er noch einen Wunsch habe, sagte er: Ja, den habe er, er wolle sich noch einmal richtig recken, man möge ihm doch die Handfesseln lockern.
Der Wachtmeister nahm ihm die Eisen ab. Der junge Arbeiter reckte sich. Mit zum Himmel erhobenen Fäusten stand er einen Augenblick still da; dann schlug er blitzschnell, bevor noch die Umstehenden begriffen, was vorging, dem SA-Führer, der die Wachmannschaft kommandierte, die Vorderzähne ein.
Als oppositionelle Abgeordnete im britischen Unterhaus den Fall des Obersten Ewart Grogan zur Sprache brachten, der in seinem Bericht an den Gesetzgebenden Rat der Kolonie Kenya empfohlen hatte, weiterhin Häftlinge des Konzentrationslagers Thomson Falls öffentlich, in Bündeln zu fünfundzwanzig Stück, hängen zu lassen, um ihren — gegen den Raub von Land und Menschen durch die weißen Pflanzer rebellierenden — Brüdern vom Stamme der Kikuyuneger eine Lehre zu erteilen, erhob sich der Kolonialminister, Sir Oliver Littleton, und erklärte mit der Miene gekränkter Unschuld: Erstens entspreche die Nachricht über angebliche Greuel in Thomson Falls keineswegs der Wahrheit; zweitens habe der Gouverneur von Kenya bereits aus eigenem gewisse vereinzelte Übergriffe der Lagerleitung abgestellt; und drittens sei, ohne daß es erst einer Anfrage der Opposition bedurft hätte, vom Kolonialministerium eine Untersuchung der Angelegenheit angeordnet worden. Allfällige Unzuträglichkeiten und Mißstände würden, darauf gebe er dem Hohen Hause sein Wort als Gentleman, sofort und unnachsichtig gesühnt werden.
In der Tat wurde, wie einer späteren Mitteilung des Kolonialministeriums zu entnehmen ist, der Oberst Grogan seiner Funktion als Vorgesetzter der Lagerleitung von Thomson Falls enthoben; er hat jetzt die Aufsicht über die Polizei in den Reservationen der Kikuyus. Auch müssen hinfort die Exekutionen in Thomson Falls einzeln und auf einem dafür entsprechend hergerichteten Platz — das ist hinter einem mindestens fünf Fuß drei Zoll hohen Bretterzaun — vorgenommen werden.
Genossen, ich habe Euch eine Mitteilung zu machen. Sie betrifft meinen Bruder Martin H…, von dem Ihr wißt, daß er der Geheimen Staatspolizei eine große Zahl guter Genossen ausgeliefert hat.
Eigentlich müßte ich Euch aufsuchen. Mündlich ließe sich viel besser berichten, wie alles gekommen ist und was sich gestern ereignet hat, aber das geht nicht, weil ich Euch nicht gefährden darf und auch, weil ich, für die nächste Zeit wenigstens, verschwinden muß, nach dem, was gestern geschehen ist.
Deshalb schreibe ich diesen Brief. Ich will damit beginnen, wie Martin zum Spitzel gepreßt worden ist. Er ist es nur geworden, weil die Gestapo ihn dazu gemacht hat, auf eine Weise, die ich leider nur sehr unvollkommen schildern kann — aber ich glaube, auch diese unvollkommene Schilderung genügt: nicht um Martin zu entschuldigen, das soll und kann nicht geschehen, sondern nur um den Fall klarzustellen und aus ihm zu lernen.
Wie Ihr wißt, konnte Martin nach dem Reichstagsbrand sich nicht mehr in seinem Bezirk halten, er war dort viel zu bekannt. Er verzog nach R…, wo er die ersten illegalen Flugblätter herstellte und die unterirdische Presse organisierte. Als einige führende Genossen im Nachbarbezirk verhaftet wurden, übernahm er auch dort die Leitung der Zeitungsarbeit. Es klappte alles sehr gut, bis die Geheimdruckerei in der S… Straße aufflog und daraufhin die Massenhaussuchungen einsetzten. Martin ist damals mit knapper Not der Verhaftung entgangen, aber sie kannten ihn seitdem und waren ständig hinter ihm her. Trotzdem hätte er sich noch eine ganze Weile halten können, wenn er nicht von einem ehemaligen Schulkameraden verpfiffen worden wäre.
Als sie ihn verhafteten, hatte er falsche Papiere bei sich, aber sie bekamen heraus, wer er war und daß er von seiner früheren Arbeit her Hunderte von Genossen kennen mußte, und sie verlangten sofort, er solle ihnen Adressen nennen und Verhaftete identifizieren. Da er nichts aussagen wollte, schafften sie ihn in die General-Pape-Straße und behielten ihn dort drei Tage lang im Keller. Meine Frau hat ihn zwei Wochen später im Krankenhaus besuchen dürfen; er war kaum zu erkennen, ganz aufgedunsen. Seine Wäsche, die sie mitbrachte, konnte man nicht ansehen, es war ein Grauen.
Sie haben ihn dann sechs Wochen eingesperrt gehalten und immerzu verhört, Tag und Nacht, mit ganz kurzen Pausen. Er war schließlich schon so auf dem Hund, daß sie Angst bekamen, er könnte ihnen verrecken. Das wollten sie nicht, sie hatten noch Verschiedenes mit ihm vor. Sie ließen ihn frei, wahrscheinlich hofften sie herauszufinden, mit wem er Verbindung aufnahm, aber das merkte er und blieb einfach zu Hause. Auch war er so hergenommen, daß er sich zuerst einmal etwas erholen mußte. Gerade als er halbwegs beisammen war und auch die erste Verbindung mit den Genossen hergestellt hatte, holten sie ihn wieder, und alles fing von neuem an: General-Pape-Straße, Krankenhaus, Gestapo. Als sie mir auf dem Präsidium sagten, er sitze in Tempelhof im Columbiahaus, dachte ich, ich sehe ihn nicht wieder. Aber sie machten ihn doch nicht fertig, sie hofften immer noch, aus ihm herauszubekommen, was er wußte. Er sagte mir später, er wisse selbst nicht, wie er das alles ausgehalten habe, die Prügel und die Verhöre und das stundenlange Strammstehen. Er muß in einem Zustand gewesen sein, wie er bei Todkranken eintritt. Er sagte, er habe das Gefühl gehabt, als sei er schon vom Leben weggeschwommen, aber noch nicht am anderen Ufer angelangt.
Читать дальше