In blendender Laune betrat er den Saal Nummer 37, gerade als Dr. Wollters wütend ausrief:
«Es muß sofort eine Verbindung nach Puschkin geschaffen werden! Wenn der Einsatzstab des Sonderkommandos Rosenberg mittlerweile dort war, können wir die fehlenden Dinge abschreiben.«
«Was ist mit Rosenberg?«fragte Koch. Seine scharfe Stimme ließ die Wissenschaftler herumfahren wie ertappte Diebe. Kochs gute Laune war wie weggewischt — der Name Rosenberg genügte, ihm gründlich den Tag zu verderben.
«Herr Gauleiter… es fehlen einige Dinge vom Bernsteinzimmer. «Dr. Findling zeigte auf die am Boden zusammengesetzte Bernsteinwandtafel.»Der obere Fries, die Ornamente zum Anschluß an die Deckenmalerei und zwei der drei Zimmertüren. Sie wurden offensichtlich vergessen, einzuladen.«
«Eine Sauerei!«schrie Koch und stampfte mit dem rechten Fuß auf. Er hatte das bei Hitler gesehen und festgestellt, daß solch ein Stampfen großen Eindruck hinterließ.»Vergessen! Wie kann man das vergessen?! Wer ist dafür verantwortlich?«Dr. Wollters schluckte, sah Wachter an, aber der schwieg und berichtete nichts von seinem zehnfachen Hinauswurf. Tapfer blickte der Rittmeister dann Koch in die wütenden Augen.
«Ich nehme die Verantwortung auf mich, Herr Gauleiter. Herr Dr. Runnefeldt hat den Ausbau des Bernsteinzimmers geleitet, ich die Verpackung und die Verladung. Das mit den Friesen ist mir ein Rätsel… die beiden Türen haben wir glatt vergessen.«»Und jetzt war Rosenberg im Katharinen-Palast, sagen Sie?«»Ja. Leiter der Aktion ist Major Heinrich Müller-Gießen. Zweimal waren wir schneller als er… aber was wir zurückgelassen haben, dürfte jetzt weg sein. Verschwunden. Hoffnung habe ich nur für die Türen. Herr Gauleiter, machen Sie es möglich, bitte, eine schnelle Verbindung nach Puschkin in den Palast zu schaffen. Wenigstens die Türen können wir noch retten…«»Und wenn sie nicht mehr da sind, weiß ich, wer sie hat! Auch den Deckenfries…«
«Das wird nicht nachzuweisen sein«, sagte Wollters vorsichtig.»Im Schloß ist genug zurückgeblieben, was sich für Rosenberg lohnt. Der Chinesische Saal, die Räume von Katharina der Großen, viele Gemälde… und wenn das Einsatzkommando Rosenberg erst einmal verpackt, fragt keiner danach, ob darunter auch die von uns vergessenen Kisten sind! Den Ausbau der Türen aber wird man sehen. Die 18. Armee muß davon unterrichtet werden. Auch General Jobs von Haldenberge, Befehlshaber des 50. Armeekorps. Er wohnt mit seinem Stab im Schloß.«
«Versuchen wir es. «Koch blickte auf die Wandtafel am Boden.»Welch ein Kinstwerk!«sagte er leise. Die Herren um ihn herum waren sprachlos: Koch zeigte Gefühle, konnte von einem Kunstwerk ergriffen sein. Wie paßte das zusammen? Runnefeldt zog eine Parallele: Hunderttausende Juden ließ Hitler umbringen, aber seinen Schäferhund Blondie liebte er abgöttisch und hätte geweint, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Wir werden den Menschen nie begreifen und ergründen lernen.
«Vor soviel Schönheit stockt einem der Atem…«fügte Koch mit leiser Stimme hinzu.»Deutsche Bernsteinmeister… vor über 230 Jahren… und so etwas Einmaliges soll in Rußland bleiben? Der Führer wird mir ewig dankbar sein, daß ich diesen Schatz nach Königsberg gerettet habe.«
Runnefeldt und auch Wachter vermieden es klug, Koch daran zu erinnern, daß es der Zarin Elisabeths Hofarchitekt war, der Graf Bartolomeo Francesco Rastrelli, der das Bernsteinzimmer nach dem Tode Peters des Großen mit neuen, nach eigenen Entwürfen hergestellten Bernsteinschnitzereien weiter vervollkommnet hatte, wozu auch der Wandfries gehörte… eine Sinfonie der Schönheit, eine blendende Pracht, die das Bernsteinzimmer, wirklich unnachahmbar machte. Dieser Bernsteinhymnus war das Werk des Italieners Rastrelli, nicht ostpreußischer Handwerksmeister. Aber wer wagte es schon, Gauleiter Koch zu berichtigen?
«Wenn nicht Bormann das Zimmer nach dem Krieg ins neue Museum von Linz bringen läßt. Führervorbehalt!«Dr. Runnefeldt riß damit Koch aus seinen Gedanken.»Und welche Kunstwerke unter Führervorbehalt fallen, das wird später allein Bormann bestimmen. Das wissen Sie, Gauleiter.«
«Um dieses Zimmer werde ich kämpfen! Es bleibt hier im Königsberger Schloß!«Kochs Stimme klang entschlossen.»Kämpfen, meine Herren!«
«Auch gegen Bormann?«
«Auch gegen ihn! Bormann ist nicht unverwundbar. Auch Siegfried hatte eine kleine Stelle zwischen den Schultern, wo Hagen ihn vernichten konnte. «Koch zeigte mit der geballten Faust auf die vor ihm liegende Wandtafel.»Für dieses Kunstwerk könnte ich zum Hagen werden!«
Die Herren nickten stumm, aber ohne Bewunderung. Sie alle wußten, daß Koch Angst hatte vor Bormann, daß sie sich haßten und daß nach dem Krieg ein Machtkampf ohne Beispiel beginnen würde, nicht einmal vergleichbar mit den mörderischen Intrigen der Renaissancefürsten, der Päpste und Kardinale.
«Ich werde versuchen, nach Puschkin oder zur 18. Armee durchzukommen. Ich kenne Generaloberst von Küchler gut.«»Das wäre ein großer Erfolg, Gauleiter. «Rittmeister Wollters glänzte über das ganze Gesicht.»Ich muß ohnehin nächste Woche nach Riga zurück und könnte nach Puschkin fahren und den Ausbau der Türen überwachen.«
«Das ist ein guter Vorschlag. «Koch war milder gestimmt und» ah Wollters an.»Sie haben ja einiges gutzumachen, nicht wahr?«
«Jawohl, Gauleiter.«
«Also los! Rufen wir von Küchler oder von Haldenberge im Katharinen-Palast an.«
Koch grüßte knapp mit dem Hitlergruß, drehte sich forsch auf den Absätzen um und verließ den Saal Nummer 37. Die Herren, mit Ausnahme von Wachter, hoben ebenfalls den rechten Arm und ließen ihn oben, bis Koch das Zimmer verlassen hatte.
Oberschwester Frieda wartete in ihrem Zimmer auf Jana Petrowna, wie eine besorgte Mutter auf ihre zum erstenmal allein ausgehende Tochter wartet. Man sah, wie sie aufatmete, als Jana ins Zimmer kam.
«Wie war es?«fragte sie.»Warst du im Schloßmuseum? Was hast du gesehen?«
«Viel, Oberschwester. «Jana setzte sich, nahm ihr Häubchen ab und schüttelte ihre schwarzen Locken.»Aber es war ein falscher Entschluß.«
«Wieso?«Der Fleischturm beugte sich etwas vor.»Was gefällt dir nicht am Schloßmuseum?«
«Ich habe Gauleiter Koch kennengelernt. Am Mittwoch will er mit mir zu einem Jagdschlößchen fahren.«
«Dieses abscheuliche Schwein!«sagte Frieda und schnaufte laut durch die Nase.»Du bleibst hier!«
«Der Gauleiter will mit Ihnen sprechen…«
«Soll er!«Frieda Wilhelm! richtete sich zu voller Größe auf.»Alle haben sie Angst vor dem Schwein… ich nicht!«
«Er ist mächtiger als Sie, Oberschwester.«
«Ein Dummkopf ist er! Ein primitiver Affe!«Sie hob die Augenbrauen und musterte Jana Petrowna verärgert.»Oder willst du mit ihm ins Bett? Eine seiner vielen Huren werden? Nach zwei Wochen wirft er dich weg. Du wirst irgendwohin versetzt, nur damit du nicht mehr in seiner Nähe bist.«
«Und wenn ich mich weigere… auch. Oberschwester, ich habe Angst.«
Auf der Bettkante saß sie, die Hände ineinander verschlungen, ein Häufchen Hilflosigkeit. Es gab nur einen Ausweg: die Flucht. Wieder untertauchen in die Anonymität. Nur so war es möglich, in der Nähe von Väterchen Michail und dem Bernsteinzimmer zu bleiben.
«Warten wir es ab, Kindchen. «Frieda Wilhelmi war so schnell nicht zu schrecken, ebensowenig wie man sie nicht zähmen konnte, wenn ihr Zorn alle Dämme brach. Da half nur noch der Rückzug… die Ärzte, ohne Ausnahme, hatten sich darauf eingestellt.
«Sie ist unersetzbar«, hatte Chefarzt Dr. Pankratz einmal während einer Ärztebesprechung gesagt.»Ohne Frieda hätten wir hier ein Chaos… aber ein Drachen ist sie trotzdem!«
«Am Mittwoch?«sagte sie jetzt nachdenklich.»Da sind wir gar nicht im Haus. Da sitzen wir im Kino und sehen uns den Za-rah-Leander-Film an. Und jetzt, Kindchen, koch uns einen starken Kaffee… ich habe wieder ein Pfund organisiert.«
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