Villefort stieß die Tür mit einem Fußtritte ein.
Am Eingang des Zimmers, das in ihrBoudoir ging, stand Frau von Villefort, bleich, mit verzogenem Gesicht und schaute ihn mit furchtbar starren Augen an.
Heloise! rief er, was haben Sie, sprechen Sie!
Die junge Frau streckte ihre starre, leichenblasse Hand gegen ihn aus.
Es ist geschehen, mein Herr, sagte sie mit einem Röcheln, das ihren Schlund zu zerreißen schien: Was wollen Sie noch mehr von mir?
Und sie stürzte plötzlich zuBoden.
Villefort lief auf sie zu und faßte siebei der Hand, in der sie krampfhaft ein kristallenes Fläschchen hielt.
Frau von Villefort war tot.
Außer sich vor Schrecken wich Villefortbis auf die Schwelle des Zimmers zurück und schaute die Leiche an.
Mein Sohn! rief er plötzlich, wo ist mein Sohn? Eduard! Eduard!
Er stürzte aus dem Zimmer und schrie nach Eduard mit einem solchen Tone der Angst, daß dieBedienten herbeiliefen.
Mein Sohn! Wo ist mein Sohn? fragte Villefort, man entferne ihn von dem Hause, er soll nicht sehen…
Herr Eduard ist nicht unten, antwortete der Kammerdiener.
Er spielt ohne Zweifel im Garten; seht nach! seht nach!
Nein, Herr Staatsanwalt, die gnädige Frau hat ihren Sohn vor ungefähr einer halben Stunde gerufen; Herr Eduard ist zu ihr hineingegangen und seitdem nicht mehr herausgekommen.
Ein eiskalter Schweiß überströmte Villeforts Stirn; seineBeine strauchelten, seine Gedanken fingen an, sich wie das in Unordnung gebrachte Räderwerk einer zerbrochenen Uhr in seinem Kopfe zu drehen.
Zu ihr! murmelte er, zu ihr! Und er kehrte langsam um und wischte sich mit einer Hand den Schweiß ab, während er sich mit der andern an die Wand stützte.
In das Zimmer zurückkehrend, mußte er abermals den Leichnam der unglücklichen Frau sehen.
Villefort fühlte seine Zunge im Schlunde gelähmt.
Eduard! Eduard! stammelte er.
Das Kind antwortete nicht; wo mochte das Kind sein, das nach Aussage der Diener zu seiner Mutter hineingegangen und nicht wieder herausgekommen war?
Villefort machte einen Schritt vorwärts.
Der Leichnam der Frau von Villefort lag quer vor der Tür desBoudoirs, in dem sich Eduardbefinden mußte; dieser Leichnam schien mit starren, offenen Augen, mit einer gräßlichen, geheimnisvollen Ironie auf den Lippen an der Schwelle zu wachen.
Hinter dem Leichnam ließ der halbaufgehobene Türvorhang einen Teil desBoudoirs, ein Klavier und das Ende eines Diwans vonblauem Atlasbemerken.
Villefort machte ein paar Schritte vorwärts und sah auf dem Sofa sein Kind liegen. Es schlief ohne Zweifel.
Er nahm das Kind in seine Arme, preßte es, schüttelte es, rief es; das Kind antwortete nicht. Er drückte seine gierigen Lippen auf seine Wangen; diese Wangen warenbleich und eisig; er riebseine starren Glieder, er legte seine Hand auf sein Herz, — das Herz schlug nicht mehr. Das Kind war tot. Ein viereckiges zusammengelegtes Papier fiel aus EduardsBrust. Wie vomBlitze getroffen, sank Villefort auf seine Knie; das Kind entschlüpfte seinen schlaffen Armen und rollte an die Seite seiner Mutter.
Villefort hobdas Papier auf, erkannte die Schrift seiner Frau und durchlief es gierig. Es enthielt folgende Worte: Sie wissen, obich eine gute Mutter war, da ich mich für meinen Sohn zur Verbrecherin gemacht habe. Eine gute Mutter reist nicht ohne ihren Sohn!
Villefort wollte seinen Augen nicht trauen, seiner Vernunft nicht glauben; er schleppte sich zu Eduards Körper, untersuchte ihn noch einmal mit ängstlicher Aufmerksamkeit, und ein herzzerreißender Schrei drang aus seinerBrust hervor.
Gott! murmelte erbeständig, Gott!
Diebeiden Opfer flößten ihm Entsetzen ein; er fühlte, wie sich der Schauer der die zwei Leichnamebergenden Einsamkeit seinerbemächtigte. Erbeugte sein Haupt unter dem Gewichte der Schmerzen, er erhobsich auf seine Knie, schüttelte seine von Schweiß feuchten, vor Schrecken emporgesträubten Haare, — und er, der nie Mitleid mit jemand gehabt hatte, suchte den Greis, seinen Vater, auf, um irgend jemand zu haben, dem er sein Unglück erzählen, bei dem er weinen könnte.
Noirtier schien aufmerksam, freundlich auf den wie gewöhnlich ruhigen und kalten AbbéBusoni zu hören.
Als Villefort den Abbé erblickte, fuhr er mit der Hand nach seiner Stirn. Die Vergangenheit kehrte zu ihm zurück; er erinnerte sich desBesuches, den er dem Abbé zwei Tage nach dem Mittagsmahle in Auteuil gemacht, und desBesuches, den ihm der Abbé am Todestage von Valentine abgestattet hatte.
Sie hier, mein Herr! sagte er; Sie erscheinen also immer nur in diesem Hause, um den Tod zu geleiten?
Busoni richtete sich auf. Als er die verstörten Gesichtszüge desBeamten, den wilden Glanz seiner Augen wahrnahm, begriff er, oder glaubte er zubegreifen, daß die Szene vor dem Schwurgericht sich abgespielt hatte; das übrige wußte er nicht.
Ichbin damals gekommen, umbei dem Leichnam Ihrer Tochter zubeten, antworteteBusoni.
Und warum kommen Sie heute hierher?
Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Schuld hinreichendbezahlt haben, und daß ich von diesem Augenblicke an Gottbitten werde, er möge zufrieden sein, wie ich.
Mein Gott! rief Villefort erschreckt zurückweichend, diese Stimme ist nicht die des AbbésBusoni!
Nein.
Der Abbé riß seine falsche Tonsur ab, schüttelte den Kopf, und seine langen, schwarzen Haare fielen, vom Zwangebefreit, auf seine Schultern herabund umrahmten sein männliches Antlitz.
Es ist das Gesicht des Herrn von Monte Christo, rief Villefort mit stieren Augen.
Auch das ist es nicht, Herr Staatsanwalt, suchen Siebesser und ferner.
Diese Stimme! Diese Stimme! Wo habe ich sie zum ersten Male gehört?
Sie haben sie zum ersten Male in Marseille gehört vor einundzwanzig Jahren, am Tage Ihrer Verlobung mit Fräulein von Saint‑Meran. Suchen Sie in Ihren Akten!
Sie sind nichtBusoni? Sie sind nicht Monte Christo? Mein Gott, Sie sind jener verborgene Todfeind! Ich habe in Marseille etwas gegen Sie getan, oh! wehe mir!
Ja, du hast recht, sagte der Graf, die Arme über seinerbreitenBrust kreuzend; suche! suche!
Aber was habe ich dir denn getan? rief Villefort, dessen Geistbereits auf der Grenze schwebte, wo sich Vernunft und Unvernunft vermengen und der Wahnsinn droht, was habe ich dir getan? Sage! Sprich!
Sie haben mich zu einem langsamen, gräßlichen Tode verurteilt, Sie haben meinen Vater getötet, Sie haben mir mit der Freiheit die Liebe und mit der Liebe das Glück geraubt!
Wer sind Sie? Mein Gott! Wer sind Sie denn?
Ichbin das Gespenst eines Unglücklichen, den Sie in dein Kerker des Schlosses Ifbegraben haben. Diesem aus seinem Grabe hervorgegangenen Gespenst hat Gott die Maske des Grafen von Monte Christo gegeben, er hat es mit Diamanten und Goldbedeckt, damit Sie es erst heute erkennen sollen.
Ah! Ich erkenne dich, ich erkenne dich! sprach der Staatsanwalt; dubist…
Ichbin Edmond Dantes!
Dubist Edmond Dantes! rief der Staatsanwalt, den Grafenbeim Handgelenke fassend, so komm.
Und er zog ihn nach der Treppe, zu der ihm Monte Christo, ohne zu wissen, wohin ihn der Staatsanwalt führte, aber eine neue Katastrophe ahnend, folgte.
Sieh, Edmond Dantes, sagte er, dem Grafen den Leichnam seiner Frau und den Körper seines Sohnes zeigend; sieh hier! Bist du gerächt?
Monte Christo erbleichtebei diesem furchtbaren Schauspiel; erbegriff, daß er die Rechte der Rache überschritten hatte; erbegriff, daß er nicht mehr sagen konnte: Gott ist für mich und mit mir.
Er warf sich mit einer Empfindung unaussprechlicher Angst auf den Körper des Kindes, öffnete seine Augen, befühlte seinen Puls und stürzte mit ihm in Valentines Zimmer, das er doppelt schloß.
Mein Kind, rief Villefort, er trägt den Leichnam meines Kindes fort! Oh! Fluch! Unglück! Tod über dich!
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