»Ich war auch dabei«, sagte Maudio.
Sie hatten nicht weit zu gehen brauchen. Nach einer Meile stießen sie an einer dunklen Stelle im Wald auf einen Graben. Er war mit einem Gitter aus Zweigen und Farnwedeln getarnt. Am Grund waren zugespitzte Pfähle in den Boden gerammt.
Maudio schniefte und wischte sich mit dem Unterarm über die Augen, sodass er sich Blut ins Gesicht schmierte. »Wären wir ein wenig schneller geritten, wären auch wir in den Graben gestürzt. Aber wir waren auf der Hut und haben die Pferde langsam gehen lassen …« Ihm versagte die Stimme.
Der Mann neben ihm, Decimus, berichtete weiter. »Severus lag am Grund, noch im Sattel. Er war tot. Er muss direkt hineingeritten sein.«
»Und die anderen?«, fragte Julian leise.
»Ein zweites Pferd lag in dem Graben, das von Rufus, glaube ich, oder vielleicht von Marcellus …« Er warf mir einen zaghaften Blick zu und fügte rasch hinzu: »Aber es gab sonst keine Toten, denn Severus ritt immer voran. Jovinus vermutet, dass die anderen verschleppt wurden.«
Jemand packte meinen Arm. Es war Oribasius. Als ich ihn anschaute, war sein Blick voller Sorge. Es war typisch für ihn, selbst in einem solchen Augenblick daran zu denken, wie anderen zumute war.
Julian stellte Maudio allerhand Fragen. Ich zwang mich, zuzuhören. War das Heer unterwegs angegriffen worden? Wo befand es sich jetzt? Wie lange würde es dauern, dazuzustoßen?
Maudio antwortete mit nassen Augen und brechender Stimme, dass es keinen Angriff gegeben habe. Sie hätten sich auf sicheres Gelände zurückgezogen und ein Lager aufgeschlagen. »Dann hat Jovinus uns hierhergeschickt. Mehr weiß ich auch nicht.«
Julian wandte sich Dagalaif zu. »Gib Bescheid, dass wir im Morgengrauen aufbrechen. Maudio, Decimus – ihr müsst mich begleiten. Ich brauche Männer, die die Stelle kennen.«
»Ja, Cäsar«, antworteten sie.
»Gut. Jetzt lass dir vom Arzt den Arm versorgen und geh schlafen.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Ich komme mit«, sagte ich.
»Nein, ich brauche dich hier«, erwiderte er, blieb dann aber stehen und schaute mich an.
»Ja, du kommst mit, Drusus. Natürlich. Wie könntest du anders?«
Am Tag darauf überquerten wir im ersten Morgengrauen die Bootsbrücke.
Ich war schon in Britannien durch Wald geritten. Doch dort war er durch jahrhundertelange Nutzung ausgedünnt und von Straßen und Wegen durchzogen, sodass die Waldstücke wie Inseln von Ackerland und Weiden umgeben waren.
Hier jedoch schien der Wald kein Ende zu nehmen. Er war so finster und dicht, dass man nicht weit sehen konnte; es sah aus, als hätte noch kein Mensch diesen Wald durchstreift. Die hohen Kronen der Eichen und Buchen ließen kaum Licht hindurch, sodass es auch mitten am Tag dämmrig war. Schon bei harmlosen Geräuschen – dem Rascheln trockener Blätter bei unseren Schritten oder dem Knacken von Ästen – richteten sich meine Nackenhaare auf. Es war, als ob die Bäume uns unsere Anwesenheit verübelten.
Doch ich hatte keine Zeit, Angst aufkommen zu lassen, und verbannte die finsteren Baumgötter aus meinen Gedanken. Ich musste Marcellus retten. Die verstohlenen, mitleidvollen Blicke der anderen waren mir nicht entgangen, aber nur Oribasius hatte ein Wort darüber verloren, als er am Abend in mein Quartier gekommen war. »Es wurde keine Leiche gefunden, Drusus, bedenke das«, sagte er. »Noch gibt es Hoffnung.«
»Ja, Oribasius. Er ist nicht tot. Das weiß ich genau. Ich werde ihn finden, was immer es kostet.«
Ich dankte ihm für sein Kommen und seine Freundlichkeit. Das Übrige behielt ich für mich. Ein Leben ohne Marcellus konnte ich mir nicht vorstellen. Mir war, als hätte sich ein Abgrund vor mir aufgetan.
Am Nachmittag des zweiten Tages stießen wir zum Heer, das auf einem Hügel lag, umgeben von hastig errichteten Palisaden. Es herrschte eine gedämpfte, unruhige Stimmung. Julian rief sofort nach Jovinus und Cella und ließ die alemannischen Kundschafter zu sich bringen.
Man hatte sie gefesselt. Mit Angst in den Augen stolperten sie herein, denn sie erwarteten ihre Hinrichtung. Julian befragte sie mithilfe eines Dolmetschers. Wessen Territorium dies sei, wollte er wissen, und welches Volk hier lebe, Alemannen oder Burgunder oder andere Stämme, und wie viele es seien und wo ihre Siedlungen lägen.
Ich beobachtete die Gesichter der Alemannen, als sie antworteten. Julian war zornig. Er hätte sie enthaupten lassen, sobald er eine Lüge gespürt hätte. Doch er schonte sie. Germanen sind nicht darin geübt, ihre wahren Gedanken zu verbergen, und die Gesichter unter den jugendlichen, blonden Bärten ließen erkennen, dass sie die Wahrheit sagten. Sie waren genauso überrascht gewesen wie alle anderen.
Danach ging ich durch das Lager, tief in Gedanken versunken, als mich plötzlich jemand am Arm fasste. Überrascht drehte ich mich um. Es war Durano.
»Hör zu, Drusus«, begann er und zog mich auf die Seite. »Du musst mit Julian sprechen. Dieser törichte Cella will mit dem gesamten Heer blindlings durch den Wald trampeln.«
»Na und? Dann finden wir sie wenigstens.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Denn sobald wir uns nähern, werden die Germanen in den Wald verschwinden und die Gefangenen mitnehmen oder sie vorher umbringen. Sie werden Cella nicht den Gefallen tun und ihm die Schlacht liefern, die er sich wünscht. Das ist nicht ihre Kampfesweise.«
»Was dann, Durano?«, fragte ich ein wenig verärgert. »Wie sollen wir sie anders finden?«
»Überzeuge Julian, mich heute Nacht nach ihnen suchen zu lassen. Mich und noch drei Mann. Mehr brauche ich nicht.«
Nach kurzem Nachdenken sah ich ein, dass sein Vorschlag vernünftig war. Ich blickte ihm fest in die Augen und sagte: »Und ich komme mit.«
Er musterte mich prüfend. »Du wirst vielleicht den Tod finden«, gab er zu bedenken.
»Glaubst du, das kümmert mich? Sie haben Marcellus, oder er ist vielleicht schon tot.«
Er nickte bedächtig. »Dann sprich mit Julian. Er vertraut dir. Mich kennt er gar nicht. Überzeuge ihn. Aber beeil dich. Es dämmert bereits.«
Und so kam es, dass wir uns bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg machten – Durano mit seinen drei Männern, einer der alemannischen Kundschafter und ich.
Auf Duranos Beharren hatten wir die schwere Rüstung und das Schwert im Lager gelassen und trugen nur unsere lederne Tunika und den Dolch. Schwere Ausrüstung hätte uns nur gebremst, und worauf es jetzt ankam, waren Schnelligkeit und das Überraschungsmoment.
Die grauen Wolken, die seit unserer Rheinüberquerung über dem Wald gehangen hatten, waren aufgerissen und wurden von einem frischen Ostwind davongetrieben. Der Kundschafter, der ein schlichtes, fehlerhaftes Latein sprach, sagte, er habe unweit der Stelle, wo Severus gefallen war, ein Rinnsal gesehen. Wenn wir dem folgten, würden wir zu einem Bach gelangen und an seinem weiteren Verlauf vermutlich eine Siedlung finden.
Wir zogen weiter, bewegten uns vorsichtig und schauten wachsam nach allen Seiten. Irgendwann blieb der Kundschafter stehen und gab uns ein Zeichen, still zu sein. Schweigend spähte er über den dunklen Boden, wie ein Hund an einer Fährte Witterung aufnimmt. Dann nickte er und führte uns von der eingeschlagenen Richtung weg eine Böschung hinauf. Bald kamen wir zu einer farnbewachsenen Felsnase. Der Kundschafter blieb stehen; dann kletterte er zur Spitze hinauf, schob die Farne auseinander und deutete auf die sprudelnde Quelle darunter.
Eine halbe Meile weit liefen wir an dem Wasserlauf entlang bis zu einer Stelle, wo er in einen flachen, steinigen Bach mündete. Diesem folgten wir am Grund einer Schlucht nach Osten.
Ich kannte Duranos Männer nicht, und bei unserem eiligen Aufbruch hatten wir uns nur flüchtig bekannt machen können. Sie waren eng miteinander verbunden, Gereon, Pallas und Phormio, und hatten schon viele gemeinsame Kämpfe hinter sich. Ich war der Fremde; sie betrachteten mich misstrauisch und akzeptierten mich nur, weil Durano mir vertraute. Ich konnte das gut verstehen. In solch einer Lage, wo das Leben vom Verhalten des nächsten Kameraden abhängt, hält ein Soldat sich an die, die er kennt. Unter anderen Umständen hätte ich mich von ihnen zurückgezogen und sie ihren Auftrag ausführen lassen. Doch mich hatte eine Wut gepackt und trieb mich voran, oder es war ein Gott. Wie auch immer, ich war nicht in der Stimmung, darüber nachzudenken. Ich wusste nur, dass ich mich nicht verscheuchen lassen wollte.
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