Er glotzte mich an. »Du lauerst mir auf, um Pfeile auf mich abzuschießen, und jetzt hilfst du mir aufs Pferd? Dann bist du wirklich einer von ihnen! Du bist genauso verrückt wie der alte Henry selbst!«
»Still. Kein Wort mehr!« Ich packte seine Hand und riss ihn hoch. Er schrie auf, als ich seinen Fuß in den Steigbügel hob und ihn in den Sattel stemmte. Benommen ergriff er die Zügel und zog kräftig daran.
Schon wieder der Hochmut in Person, wendete er das Pferd zu mir herum. Ich stellte mich seinem bösartigen Blick, in dem Wissen, dass er sich anschickte, mir eine Wunde zuzufügen, die noch viel tiefer war als alles, was ich mit einem Pfeil auszurichten vermochte.
»Deine Mutter«, sagte er voller Häme, » ihre Mutter – sie hat dich heimlich auf die Welt gebracht, ehe sie am Kindbettfieber gestorben ist. Sie hatte keiner Menschenseele etwas von ihrer Schwangerschaft verraten, außer ihrer ältesten Tochter, der sie traute. Sie war verrückt vor Angst. Sie flehte ihre Tochter an, das Geheimnis zu wahren. Und sie verbarg ihre Schwangerschaft vor allen, sogar vor ihrem Mann, der damals fast das ganze Jahr am Hof verbrachte. Aber irgendetwas muss in diesen letzten Stunden geschehen sein. Mary von Suffolk muss sich der Hebamme anvertraut und etwas geäußert haben, das bei ihr Verdacht erregte, denn meiner Herrin wurde später mitgeteilt, du wärst eine Totgeburt gewesen. Sie lebte damals am Hof und gab den Befehl aus, dass man deine Leiche beseitigen und die Angelegenheit vertuschen solle. Hätte sie gewusst, dass du noch am Leben warst, wäre sie auf der Stelle den ganzen Weg von Whitehall hergeritten und hätte dich höchstpersönlich erdrosselt. Verstehst du, du könntest ihr alles nehmen – Landgut und Titel, ihren Rang am Hof und in der Thronfolge. Du bist der Sohn, den Charles Brandon sich ersehnt hatte, der Erbe des Herzogtums Suffolk. Denk gefälligst daran, wenn du das nächste Mal wieder einen Stall ausmistest.«
Seltsam frei von jedem persönlichen Gefühl erwiderte ich: »Beim nächsten Mal verteile ich keine Almosen.«
»Ich auch nicht«, entgegnete er. »Und wenn ich du wäre, würde ich zusehen, dass es kein nächstes Mal gibt. Denn sollte sie je herausfinden, dass du noch lebst, wird das für dich viel schlimmer sein als für mich.«
Damit wirbelte er herum und galoppierte davon.
Allein auf der Straße zurückgelassen, mit Blut bespritzt, sank ich auf die Knie.
Jeder Mensch sollte wissen, woher er kommt .
Cecils Worte hallten in meinem Bewusstsein wider, als ich durch die Stille ritt. Spätestens zur Dämmerung musste ich eine Stelle finden, wo Cinnabar sich über Nacht ausruhen konnte. Schließlich wählte ich eine Lichtung am Ufer eines seichten Bachs. Sobald ich Cinnabar von Sattel und Zaumzeug befreit hatte, rieb ich ihn mit einem Tuch ab und ließ ihn grasen. »Lass es dir gut gehen, mein Freund. Das hast du dir redlich verdient.«
Ich setzte mich ins Farnkraut und holte das Schmuckstück mit dem Rubin an der Spitze heraus, das Mistress Alice mir gegeben hatte. Zunächst brachte ich es nicht über mich, es anzuschauen, denn nur zu eindringlich war mir seine Bedeutung bewusst. Ich spürte den Impuls, es wegzuwerfen, zu vergessen, dass es je existiert hatte, doch tief in meiner Seele war mir klar, dass ich es mir nicht länger leisten konnte, mich selbst zu täuschen.
Wenn das, was Stokes mir eröffnet hatte, zutraf, konnte es kein Vergessen, kein Leugnen geben. Es war meine Aufgabe, die Wahrheit aufzudecken, mit ihr ins Reine zu kommen. Das schuldete ich mir selbst, nachdem ich in meiner Kindheit immer wieder über meine Herkunft gerätselt hatte; und – wichtiger noch – ich schuldete es der Frau, die mich gerettet hatte: Mistress Alice, die anscheinend gewusst hatte, wer ich war, und mich vor meiner mörderischen Schwester gerettet hatte.
In meiner Handfläche schimmerte das Gold.
Ein Tudor.
Ich war einer von ihnen, geboren von der jüngsten Schwester des letzten Königs, Henrys VIII.; Bruder der bestialischen Herzogin von Suffolk, Onkel von Jane Grey und Cousin von Königin Mary.
Und von Elizabeth! Sie und ich waren Blutsverwandte …
Tränen brannten mir in den Augen. Wie mochte sie ausgesehen haben, diese Mutter, die ich nicht mehr kennengelernt hatte? War sie schön gewesen? Hatte ich ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund? Warum hatte sie mich heimlich auf die Welt gebracht? Wovor hatte sie sich gefürchtet, dass sie ihre Schwangerschaft vor allen verborgen hatte?
Und wie wäre mein Leben verlaufen, wenn sie nicht gestorben wäre?
Die Tudor-Rose … das Zeichen der Rose .
Ich hob den Arm. Ich sollte wirklich mit keiner Menschenseele darüber sprechen. Besser ein gewöhnlicher Stallknecht, ein Bastard und Findelkind, als jemand, der in aller Heimlichkeit ausgetragen und dann dem Vergessen anheimgegeben worden war – für immer verdammt zu einem Dasein im Schatten, zu Furcht vor der Enttarnung, zu einem Leben im Verborgenen, geprägt von dem ständigen Bemühen, den anderen die Wahrheit vorzuenthalten.
Doch meine Finger weigerten sich, das Kleinod loszulassen. Dieses Schmuckstück barg seine eigene Wahrheit, und die war unauflöslich mit meiner verbunden. So wahr mir Gott helfe, es war ein Teil meiner selbst, den ich nicht einfach preisgeben konnte, nicht, solange ich nicht die ganze Wahrheit aufgedeckt hatte.
Ich wickelte es wieder in Kates parfümiertes Tuch und verstaute es erneut in der Satteltasche. Dabei streiften meine Finger über das dünne Bändchen mit den Psalmen, das ich aus der Bibliothek der Dudleys mitgenommen hatte. Für einen Moment zauberte es ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich trug also noch eine Erinnerung an Mistress Alice bei mir, eine, die sie mir so vor Augen führte, wie sie gewesen war.
Nachdem ich die letzte Krume des alten Brots und den mitgebrachten Käse verzehrt hatte, legte ich mich auf die Erde und schloss die Augen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Unablässig sah ich eine verschrumpelte Hand nach meiner fassen und ein Geschenk von unermesslicher Bedeutung hineinlegen.
Als schließlich der Morgen über dem Horizont graute, sattelte ich mein Pferd und brach auf zu einem Ritt über Felder voller verblühender goldener Schwertlilien. Ich versuchte, an nichts zu denken.
Dann erreichte ich den Fluss Orr. Dort erhob sich auf der Kuppe eines Hügels über dem anderen Ufer Framlingham Castle. Seine dreizehn Türme und mächtigen Befestigungswälle überschatteten insgesamt drei Burggräben. Dahinter lag ein riesiges Jagdrevier. Als ich den Bach durchquert hatte, erspähte ich im Näherkommen Hunderte von Männern, die damit beschäftigt waren, Kanonen und Gewehre heranzuschaffen, Felsbrocken aufeinanderzuschichten, Bäume zu fällen und die Rinde von den Stämmen zu schälen. Ich lockerte die Zügel und ließ Cinnabar, der schon die Stallungen witterte, munter drauflosgaloppieren.
Wachmänner stellten sich mir in den Weg. Wütende Fragen prasselten auf mich herab, und mir blieb nichts anderes übrig als abzusteigen, mich auszuweisen und unter strenger Bewachung zu warten, bis die Nachricht eintraf, dass Rochester mich in die Burg bat. Ich schulterte meine Satteltasche und führte Cinnabar an den Zügeln neben mir her, dem über mir aufragenden Gebäude entgegen, das den halben Himmel zu verschlucken schien. Kaum jemand nahm mich wahr. Die meisten waren zu sehr in ihre Arbeit vertieft, was die Männer freilich nicht daran hinderte, untereinander derbe Bemerkungen auszutauschen. Darein mischten sich das Bellen von Hunden, das Muhen von Kühen und die Rufe von Frauen und Kindern, die die Tiere versorgten.
Trotz aller Belastungen wurde mir leichter zumute. Um Framlingham herum war praktisch über Nacht eine Zeltstadt aus dem Boden geschossen. Deren Bewohner waren einfache Leuten sowie Soldaten örtlicher Lords, die zusammengeströmt waren, um ihre rechtmäßige Monarchin zu verteidigen. In weniger als zweiundsiebzig Stunden hatte Königin Mary ihre Armee aufgestellt. Zumindest hier war alles so, wie es sein sollte.
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