»Gehst du allein?«
Er biss sich auf die Lippen und starrte auf eine weitere keimende Kastanie, die er in der Hand hielt. Seine Finger spielten an dem grünen Keimling herum, er war nervös, und mit einem Mal hatte er das zarte Gewächs abgebrochen. Scheinbar nachlässig warf er die Kastanie und ihren zerstörten Sprössling fort.
»Ja«, sagte er abgehackt und stand auf. Dann zog er auch sie an den Händen nach oben und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Nicht einmal in die Augen konnte er ihr dabei blicken.
Es war für beide wie eine Wohltat, einige Schritte entfernt hinter dem Untergehölz plötzlich die helle Fistelstimme Vinsebecks zu vernehmen. Doch das, was dieser rief, versetzte beide in Erstaunen und lenkte sie von dem soeben erlebten traurigen Moment ab.
»Frau Margarethe! Aber Frau Margarethe! Was macht Ihr denn hier?«, rief der Zwerg aufgebracht und zugleich freudig erregt.
Johanna wusste selbst nicht, wie ihr geschah. Im Grunde hätte sie sich freuen müssen, Margarethe wiederzusehen. Sie hatte sich Sorgen um das Wohlergehen ihrer Herrin gemacht und war manches Mal von ihrem schlechten Gewissen geplagt gewesen, Margarethe könnte das plötzliche Verschwinden der Magd falsch verstanden haben. Dahingehend etwa, dass Johanna sich heimlich mit dem für Vinsebecks Befreiung bestimmten Lösegeld aus dem Staube gemacht habe. Es war eine Erleichterung für Johanna, nun von der urplötzlich in ihrem Versteck erscheinenden Kauffrau freundlich, ja herzlich begrüßt zu werden. Aber dennoch konnte sie sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren.
Sie weigerte sich regelrecht, in diesem Unbehagen Eifersucht zu erkennen, während sie Margarethe und Philipp traurig hinterherblickte, als diese nach der allgemeinen Begrüßung allein im Wald verschwanden.
»Man kennt sich?«, fragte nun der fahrende Heiler Gugelmann, der hinter der leicht bekümmerten Johanna stand und über dessen Anwesenheit sich zu wundern sie bisher noch keine Zeit gefunden hatte.
»Ihr meint die beiden?«, fragte Johanna stumpf, in Richtung Margarethe und Philipp nickend. »Ja, sie kennen sich.«
»Wie gut kennt man sich? Als ihre ehemalige Magd wirst du doch über derlei Angelegenheiten deiner Herrin gewiss Kenntnis besitzen.« Sein Gesicht wirkte unbefangen, ja keck, als er diese unverblümte Frage an Johanna richtete. Aber dennoch erkannte sie an seinen Augen, dass er nicht aus purer Neugier fragte.
»Selbst wenn ich über diese Kenntnis verfügte, würde ich als treue Bedienstete dazu schweigen, mein Herr.«
Nun stellte er sich unmittelbar neben sie und blickte sie fröhlich von der Seite an. Sie hatte bereits auf dem Markt in Hameln, als sie den Zahnbrecher zum ersten Male gesehen hatte, bemerkt, dass es sich bei diesem um einen zwar nicht unbedingt schönen, aber dennoch durchaus interessanten Mann handelte, welcher es verstand, insbesondere auf das weibliche Geschlecht Eindruck zu machen.
»Ist Eure Herrin nun in diesen Jüngling verliebt?« Er blieb hartnäckig.
»Wie kommt Ihr darauf?«
»Ist sie es?«
»Mit welcher Berechtigung wollt Ihr das in Erfahrung bringen?«, fragte Johanna zurück. Auch wenn er frech und neugierig war, wirkte dieser Mensch dennoch angenehm und durchaus ehrlich. Es war ihr nicht unwohl, mit ihm zu reden.
»Ich mag sie, Eure Herrin. Aber ich fürchte, es ist ihr gleich.«
Johanna räusperte sich und merkte dann etwas verlegen an: »Mit Verlaub, mein Herr, aber ich fürchte, sie ist anderen Standes als Ihr.«
»Das weiß ich doch«, lachte er. »Und darum frage ich auch nach ebendiesem da, mit dem sie sich unbedingt unterhalten wollte. Denn der ist auch nicht ihres Standes.«
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint.«
»Es interessiert mich herauszufinden, ob sie … nun, wie soll ich mich ausdrücken? … ob ihr viel am Dünkel gelegen ist, oder ob sie auch gewillt sein könnte, womöglich einfach ihrem Herzen zu folgen.«
Johanna blickte ihn erstaunt an: »Das habt Ihr sehr schön gesagt.«
»Vielen Dank.« Nun schien er etwas verlegen. »Ich gehe davon aus, dass dieser junge Mann, mit dem sie soeben in den Wald verschwunden ist, bereits sein Herz anderweitig verschenkt hat.«
Johanna lief rot an: »Wer sagt Euch das?«
»Die Erfahrung. Allein die Erfahrung, mein Kind«, erwiderte er spitzbübisch.
»Lieber wäre mir, wenn ich Euch um Eure Erfahrung als Knochenbrecher bitten dürfte«, lenkte sie nun vom Thema ab. »Dort im Haus haben wir einen Verletzten. Er ist vor zwei Tagen von Pferdehufen niedergetrampelt und dann von einem Wagen überrollt worden. Vinsebeck ist mit seinem Apothekerlatein am Ende, aber vielleicht könnt Ihr uns behilflich sein, Meister Gugelmann.«
»Ich werde sehen, was ich machen kann«, antwortete er und folgte der Magd in die Hütte.
Bevor sie über die Schwelle traten, warfen sie jedoch noch beide einen Blick in die Richtung, in der Margarethe und Philipp verschwunden waren.
Sie wusste also alles.
Philipp war erstaunt. Es verblüffte ihn, dass der Mörder seines Vaters so aufrichtig gewesen war, seine gesamten Schandtaten offenbar unverblümt niedergeschrieben zu haben. Ohne Auslassungen und ohne sich selbst in ein besseres Licht rücken zu wollen. Denn ganz so klangen die Worte Margarethes, als sie ihm von dem berichtete, worüber auch sie bis vor wenigen Wochen noch unwissend gewesen war.
Sie entschuldigte sich nicht für ihren verstorbenen Gatten, nahm ihn nicht in Schutz. Sie blickte Philipp nur ruhig in die Augen und erzählte alles, was sie erfahren hatte. Und einiges davon, das musste er zugeben, hatte er selbst bislang nicht gewusst. Es tat ihm weh, bestätigt zu bekommen, was er schon immer geahnt hatte – dass seine Mutter eine läufige Hündin gewesen war, dass sie sich dem jungen Peter Hasenstock selbst angeboten und damit ihren Gatten, Philipps Vater, entehrt hatte. Es schmerzte ihn zudem zu vernehmen, wie es zu dem Totschlag gekommen war. Und vor allem schämte er sich dafür, dass seine Mutter so wenig Stolz hatte und nach dem gewaltsamen Ableben seines Vaters dessen Mördern regelrecht hinterhergeschlichen war. Und das nicht etwa, um sich zu rächen – nein, sondern vielmehr, um sich ihnen weiterhin anzubieten.
Vor Ekel und Scham hätte Philipp auf den Boden speien können, doch er nahm sich zusammen und lauschte mit zusammengekniffenem Mund den ruhig ausgesprochenen Worten dieser wahrlich bemerkenswerten Frau. Sie verschwieg nichts, nicht einmal die Tatsache, dass ihr späterer Gemahl bereits in Venedig straffällig geworden war, sie erzählte auch von dem Mord Hasenstocks an dessen eigenem Onkel und von dem Komplott, welches die beiden sündhaften Burschen daraufhin geschlossen hatten. Ein Komplott, in welches Philipps arme und bis dahin unbescholtene Familie allein wegen der Schönheit seiner Mutter hineingeraten war.
»Sie haben sich in einem Teufelskreis verfangen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab«, beendete Margarethe ihren Bericht. »Und während sie selbst es verstanden, sich innerhalb dieses Kreises einzurichten und gar ihren Vorteil aus den widrigen Umständen zu ziehen, mussten andere leiden. Allein Gott wird über Reinold Gänslein und Peter Hasenstock zu richten wissen.«
Nun lachte Philipp bitter auf.
»Damit hättet Ihr Euch fein aus der Angelegenheit herausgezogen, gute Frau.«
»Ich will mich nicht herausziehen, Philipp. Nennt mir eine Möglichkeit, das begangene Unrecht zu tilgen, und ich werde sie ergreifen«, bot sie ihm an.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, und die wird schmerzhaft für Euch sein, Margarethe. Ich habe lange nachgedacht und meine Meinung Euch gegenüber geändert. Ihr habt es nicht verdient, betrogen zu werden. Aber dennoch kann ich nicht einfach so von dannen ziehen.«
Margarethes Mundwinkel zuckten nervös, sie glaubte die verklausulierten Worte des jungen Mannes zu verstehen. »Und darum werdet Ihr mich nicht weiter umgarnen, sondern seid damit zufrieden, wenn ich die Schuld meines Gatten mit Geld begleiche? Das werde ich gerne tun, Philipp.«
Читать дальше