Am nächsten Morgen, es dämmerte bereits, wachte ich auf. Der Wald roch lebendig, die Vögel sangen. Ich war über und über mit Mückenstichen bedeckt, meine Glieder taten mir vom vielen Reiten weh, aber ich fühlte mich großartig. Ich richtete mich auf. Die beiden waren bereits aufgestanden: Athanaric fütterte die Pferde, und Arbetio bereitete das Frühstück. Arbetio lächelte. »Gut geschlafen?« fragte er.
»Besser als seit vielen Monaten«, antwortete ich ehrlichen Herzens und stand auf – einigermaßen schwerfällig, da mir meine Muskeln weh taten und ich vom Reiten ein paar wundgeriebene Stellen hatte. Ich humpelte zu den beiden, um ihnen zu helfen, doch Arbetio händigte mir etwas Brot und einen Becher mit gewässertem Wein aus und meinte, ich solle mich ausruhen. »Du siehst nicht gut aus«, sagte er erneut. »Was haben die Goten in diesem verdammten Lager mit dir gemacht?«
Ich zuckte die Achseln. »Die meiste Zeit haben sie damit verbracht, mich zu verheiraten. Aber wie schon gesagt, ich war lange krank. Lieber Gott, es ist wunderbar, dich wiederzusehen. Aber wieso bist du hier? Ich dachte, du bist unentbehrlich in Novidunum.«
»Ich habe mir einfach ein paar Tage Urlaub genommen«, berichtete Arbetio fröhlich.
»Ich brauchte jemanden, dem ich vertrauen konnte«, warf Athanaric ein und gesellte sich zu uns. »Deshalb schrieb ich einen Brief und bat Arbetio um Hilfe.«
»Und du, wieso bist du hier? Ich dachte, du bist in Ägypten«, sagte ich. Er stand da, hielt den Zügel und sah mich mit einem Stirnrunzeln an. Die frühe Morgensonne sprenkelte sein Gesicht mit Lichttupfern.
»Ich habe mir ebenfalls Urlaub genommen«, erzählte er und setzte sich. Arbetio steckte ihm sein Stück Brot zu.
»Ist das nicht gefährlich? Du hast mir damals erzählt, die Behörden trauten den Goten nicht länger… Und wenn du deinen Posten in Ägypten verlassen hast, um nach Thrazien zu kommen…«
»Es wird mir schon nichts passieren, wenn ich mit dir zusammen zurückkomme. Du kannst für mich zeugen. Wenn ich ohne dich zurückkäme, würde man mich wahrscheinlich des Verrats bezichtigen. Aber ich bin nicht direkt aus Ägypten gekommen, lediglich aus Konstantinopel. Ich mußte dort eine Botschaft überbringen.«
»Ach, ihr beiden«, sagte ich und sah erneut von einem zum anderen. »Ich danke euch mehr, als ich überhaupt sagen kann. Ich glaube, ich wäre gestorben, falls ich noch einen weiteren Winter in Carragines hätte verbringen müssen.«
»Du siehst aus, als seist du bereits halb tot«, sagte Athanaric grob. »Du bestehst nur noch aus Haut und Knochen. Du sagtest vorhin, die Goten hätten immer noch versucht, dich zu verheiraten. Sie haben nicht etwa… das heißt…«
Ich war ein bißchen überrascht wegen seines plötzlichen Feingefühls. »Mich vergewaltigt? Nein. Aber… nun, mein Bruder hat einmal gemeint, kein Mann werde einen weiblichen Arzt heiraten wollen. Ich hatte allmählich das Gefühl, daß jeder Gote genau dies wollte. Ich fühlte mich wie Penelope auf Ithaca. Die ganze Zeit wurde mir nachspioniert. Außerdem gab es im letzten Winter nicht viel zu essen, und die Leute starben wie die Fliegen. So lange, bis ich selbst sterben wollte. Aber jetzt… ›O strahlender Glanz, o Licht des mit vier Pferden bespannten Sonnenwagens, o Erde und Nacht, die meinen starren Blick zuvor mit Dunkel füllten, jetzt schaue ich euch ungehindert an!‹« Ich lehnte mich zurück und sah zur Sonne auf; ich hatte das Gefühl, als falle das Jahr der Not und der Gefangenschaft wie die schmutzige Larve der Köcherfliege von mir ab und werde stromabwärts geschwemmt, während die Fliege ihre Flügel ausbreitet.
Athanaric lachte lauthals los. »Sebastianus hat erzählt, du wärest mit Euripides auf den Lippen in die Gefangenschaft gegangen. Dann ist es nur folgerichtig, daß du auf die gleiche Weise wiederkehrst.«
Er biß ein kräftiges Stück von seinem Brot ab und kaute herzhaft.
»Und wie geht es Sebastianus?« fragte ich.
Athanaric schluckte den Bissen schnell hinunter und warf Arbetio einen verlegenen Blick zu.
»Es geht ihm gut«, erwiderte Arbetio nach einem Augenblick des Zögerns. »Er ist zusammen mit seinem Vater, dem Feldherrn, bei der Armee.«
»Sein Vater hat den Ehevertrag annulliert«, erzählte Athanaric ohne Umschweife. »Er hat gesagt, der Vertrag sei ungültig, da sein Einverständnis gefehlt habe. Dann hat er ihn zerrissen und verbrannt. Du findest nicht seine… Billigung.«
»So«, seufzte ich einigermaßen erleichtert. »Er hat ja immer noch seine Daphne, oder?«
»Du brauchst nicht eifersüchtig auf sie zu sein!« meinte Athanaric.
»Eifersüchtig? Ich bin nicht eifersüchtig. Ich bin erleichtert: Ich bin im Grunde genommen froh, daß es wieder einmal nichts wird mit der Hochzeit. Aber ich dachte, du wolltest mich in Sebastianus’ Auftrag holen, um deinem Freund einen Gefallen zu erweisen.«
»Du bist ebenfalls ein Freund«, sagte Arbetio. »Daß du eine Frau bist, ändert nichts daran.«
Athanaric nickte. »Wir konnten dich schließlich nicht deinem Schicksal überlassen. Ich habe versprochen, dich da rauszuholen und jetzt habe ich es getan.«
Einen Augenblick lang saßen wir schweigend da, dann fragte Arbetio: »Was willst du jetzt tun? Weißt du schon, wohin du gehen kannst?«
»Mir wird schon etwas einfallen«, erwiderte ich und versuchte, nachzudenken. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, eine Zukunft zu haben. Vielleicht hatte ich in Wirklichkeit auch gar keine. Vielleicht war ich dazu bestimmt, im Haus meines Bruders alt zu werden. Aber vielleicht konnte ich Thorion auch dazu überreden, mich gehenzulassen. Plötzlich entschloß ich mich einfach, so zu handeln, als könne ich selbst wählen und mein Leben so gestalten, wie es mir paßte; und ich überlegte, was ich tun sollte. Einen Augenblick später fügte ich hinzu: »Vielleicht gehe ich nach Alexandria zurück. Mein Vertrag mit der Armee ist ja wahrscheinlich hinfällig.«
Arbetio lachte. »Könntest du denn in Alexandria Lehrer der Heilkunst werden?«
»Ich glaube kaum. Aber mein alter Lehrherr Philon würde mich wahrscheinlich als Partner aufnehmen. Das heißt, falls ich wegen der Rolle, die ich bei Bischof Petrus’ Flucht gespielt habe, nicht immer noch im Verdacht stehe.«
Athanaric sah mich erneut an, dann blickte er auf sein halb aufgegessenes Brot. »Bischof Petrus sitzt wieder auf dem Thron von St. Marcus«, berichtete er. »Das war der Inhalt der Botschaft, die ich nach Konstantinopel gebracht habe.«
»Was!« rief ich aus. Noch vor einer Woche hatten selbst Neuigkeiten aus Thrazien in meinen Ohren schal oder uninteressant geklungen. Heute morgen fand ich alles und jedes aufregend.
»Was ist mit Lucius passiert?«
»Seine Wachsoldaten wurden zurückgezogen, und er hielt es für klüger, Alexandria zu verlassen. Unser Erhabener Kaiser hatte weder Zeit noch Soldaten, um sich um den Aufruhr in Alexandria zu kümmern. Deshalb hat er Petrus den bischöflichen Thron überlassen, um endlich Frieden zu haben.«
»Dann gehe ich nach Alexandria!« sagte ich und trank meinen Wein in einem Zug aus.
»Den Teufel wirst du!« entgegnete Athanaric. »Sobald der Kaiser die Goten angesiedelt hat, wird Petrus wieder ins Exil geschickt – falls er bis dahin nicht tot ist. Er ist angeblich krank.«
»Dann braucht er einen Arzt. Wahrscheinlich stört es ihn nicht einmal, daß ich eine Frau bin, wenn ich ihm erzähle, daß es Athanasios ebenfalls nicht gestört hat.«
»Bist du nicht das letztemal, als du Alexandria verlassen hast, mit knapper Not der Folter entkommen?«
»Diesmal werde ich vorsichtiger sein. Ich werde versuchen, zwischen mir und der Kirche ein bißchen Distanz zu halten. Ich werde wieder bei Philon wohnen.«
»Stört es ihn denn nicht, daß du eine Frau bist?« fragte Athanaric, und in seiner Stimme klang Spott mit.
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