»Ich bin der Ingenieur«, antwortete Archimedes amüsiert, während er darüber nachgrübelte, wer wohl den Anschlag angebracht hatte.
»Du bist also Archimedes, der Sohn des Phidias!« rief der Wasserverkäufer. Enttäuscht musterte er ihn von Kopf bis Fuß. »Ich dachte, du wärst älter.«
Da lachte Philyra voll staunender Begeisterung laut auf und nahm ihren Bruder am Arm. »Medion, du bist berühmt!«
Als sie zum Kai kamen, stand dort bereits eine riesige Menschenmenge herum. Man redete, aß und trank und machte sich gegenseitig auf das Schiff aufmerksam, das Archimedes ausgesucht hatte. Es war bei weitem nicht das größte Schiff der königlichen Flotte, aber zweifelsohne ein Schiff - ein fetter Einmaster, ein Transportschiff mit ungefähr zweiundzwanzig Metern Länge. Man hatte es aus dem Wasser gezogen, und sein gewölbter Rumpf ragte doppelt mannshoch von der steinernen Gleitbahn in die Höhe. Bei seinem Anblick blieb Philyra einen Augenblick wie erstarrt stehen, dann schaute sie ängstlich ihren Bruder an. Marcus ging es nicht anders. Beide hatten sich auf Archimedes und seine Versicherung verlassen, daß sein System funktionieren würde. Aber Auge in Auge mit einem Objekt, das größer war als ihr Haus, kam ihnen das ganze Projekt völlig unmöglich vor.
»Kannst du das wirklich bewegen?« fragte Philyra.
Er war überrascht. Wie konnte sie nur daran zweifeln! »Aber ja!« rief er. »Ohne Ladung wiegt es doch nur zwölfhundert Talente, und ich habe mir einen mechanischen Vorsprung von fünfzehnhundert Talenten verschafft. Ich werde es dir zeigen!«
Zum Schutz vor der Menschenmenge wurde gerade der unmittelbare Bereich um das Schiff abgesperrt. Aber die Matrosen, die die Seile spannten, erkannten Archimedes und ließen ihn mit seiner Begleitung durch. Gerade wollte er Philyra sein System erklären, da dröhnten die Trompeten. Als sie aufblickten, sahen sie das Gefolge des Königs. Zuerst kam eine Reihe Gardesoldaten, angeführt von einem Offizier zu Pferde. Farbenprächtig glänzten die Schilde, die sie über den Rücken geschlungen hatten, und ihre Helme und Speerspitzen funkelten in der Sonne. Hinter ihnen ritt, ganz in Purpur gekleidet, der König auf einem prächtigen Schimmel. Kallippos begleitete ihn auf einem mächtigen Braunen. Anschließend folgten die Trompeter und eine verhängte Sänfte, getragen von acht Sklaven. Die Menge stieß Hochrufe aus und klatschte und machte langsam den Weg frei. Als der königliche Geleitzug vor ihnen stehenblieb, packte Philyra Archimedes vor Begeisterung ganz fest am Arm.
Die Sänfte wurde abgesetzt, die Insassen kletterten heraus: zuerst die Königin - wie ihr Mann ganz in Purpur gehüllt - und dann der kleine Gelon, dem in seinem Purpurgewand sichtlich heiß war. Zuletzt kletterte ein dunkelhaariges Mädchen in einem Mantel aus feiner, scharlachroter Baumwolle mit eingewebten Goldsternen heraus. Einen Augenblick blieb sie stehen, um ihren Mantel glattzustreichen. Archimedes richtete sich noch gerader auf und strahlte vor Vergnügen. Delia war doch gekommen, um seine Vorführung zu sehen! In Wirklichkeit war sie sogar noch hübscher als in seiner Erinnerung. Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen, und überlegte, wie er sich für ihre Botschaft bedanken konnte. Aber als sich ihre Augen endlich trafen, erwiderte sie sein Lächeln mit einem kalten, starren Blick.
Philyra hatte keine Ahnung, wer das Mädchen in Rot war, aber als die gesamte königliche Familie herüberkam und ihrem Bruder die Hand schüttelte, dachte sie, sie würde vor Stolz platzen. Sie war sich bewußt, daß die Zuschauer über sie redeten und einander auf Archimedes, den Sohn des Astronomen Phidias, aufmerksam machten. Jenen Ingenieur, der in Alexandria studiert und sich angeboten hatte, etwas Unmögliches zu tun.
Königin Philistis lächelte Philyra gnädig zu, als Archimedes sie mit ihr bekannt machte. »Ich denke, wir haben uns bereits gesehen«, sagte sie. »Du hast an deiner Schule Preise für Musik gewonnen, mein Kind, stimmt’s? Offensichtlich genießt deine ganze Familie die Gunst der Musen.«
Philyra wurde rot. Sie hatte tatsächlich Preise für Musik gewonnen, die die Königin überreicht hatte, hatte aber nicht erwartet, daß sich Philistis daran erinnern würde.
Delia warf Philyra lediglich einen verächtlichen Blick aus schwarzen Augen zu. Aber unter der Verachtung brodelte es. Als sie gemerkt hatte, daß Archimedes ein Mädchen am Arm hatte, war sie im ersten Moment vor Empörung ganz verwirrt gewesen. Aber dann fiel ihr die große Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Erleichtert erinnerte sie sich wieder daran, daß er eine Schwester hatte. Ihr war klar, daß derartige Gefühle absolut unangebracht waren, ja geradezu närrisch! Es war egal, ob Archimedes ein Mädchen oder einen Knaben oder ein halbes Dutzend Dirnen hatte. Er bedeutete ihr nichts, und genauso wollte sie es auch haben. Also übertrug sie jetzt ihren verächtlichen Blick auf ihn. Verwirrt blinzelte er.
»Und das ist das Schiff, das du bewegen wirst, ja?« fragte der König. »Beim Herakles!«
Auch er begutachtete wie zuvor Philyra Höhe und Länge, dann wanderte sein Blick zu dem schlaksigen jungen Mann neben ihm. Beide waren grundverschieden. Da schien kein Weg hinüberzuführen. Insgeheim lobte sich der König für seine Entscheidung, den Zeitpunkt der Vorführung auf dem Marktplatz anschlagen zu lassen. Falls der Junge scheitern sollte - was durchaus wahrscheinlich schien -, scheiterte er vor aller Augen. Und wenn er ihm dann verzieh, würde er nicht nur als noch großherzigerer Mensch dastehen, sondern könnte auch seinen Zugriff auf diesen Mann verstärken. Natürlich wäre in einem solchen Fall das Scheitern auch wesentlich demütigender, aber dagegen konnte man nichts machen. Jedes Scheitern hatte scharfe Zähne, egal, ob jemand zusah oder nicht.
Auch der kleine Gelon starrte das Schiff an und danach Archimedes. Normalerweise konnte er es nicht leiden, wenn er seine Mutter bei öffentlichen Auftritten begleiten mußte, aber als ihm sein Vater erklärt hatte, worum es diesmal ging, war er gerne mitgekommen. »Wirst du das alles ganz allein bewegen?« fragte er.
Grinsend zupfte Archimedes seinen Mantel gerade. »Sicher.«
»Du mußt aber stark sein!« sagte Gelon bewundernd.
»Muß ich eben nicht«, entgegnete Archimedes fröhlich. »Das ist ja der Knackpunkt. Es gibt zwei Wege, um schwere Lasten zu bewegen: entweder muß man sehr stark sein, oder man muß sich einer Maschine bedienen. Siehst du dort die Flaschenzüge?«
Zwischen der Vorderfront des nächsten Bootshauses und den steinernen Anlegepfosten am Kai wand sich ein ganzes Spinnennetz aus Seilen. Flaschenzüge waren an Flaschenzügen befestigt, die ihrerseits über kombinierte Trommeln zurückliefen und wieder mit weiteren Flaschenzügen verbunden waren. Und weiter ging es um die Achsen von Zahnrädern herum und wanderte nach einem erneuten Richtungswechsel über noch mehr Flaschenzüge weiter. Kallippos stand bei den Anlagepfosten und zählte.
»Das ist meine Maschine«, sagte Archimedes. »Weißt du, wie ein Flaschenzug funktioniert?«
»Man zieht daran«, erklärte Gelon bestimmt.
»Das stimmt. Du ziehst an einem Seil, das doppelt so lang ist wie die Strecke, die die Ladung zurücklegen soll. Dadurch brauchst du nur halb soviel Kraft. Und wenn du nun genügend Flaschenzüge einsetzt, kannst du jede Ladung mit jeder Kraft bewegen. Aber vielleicht sollten wir uns erst mal ansehen, ob pure Kraft das Schiff bewegen kann. Königlicher Herr, du hast so viele Männer deiner Garde mitgebracht, vielleicht würden die gerne mal schieben?«
Hieron hatte dreißig Wachen unter dem Kommando von Dionysios mitgebracht. Archimedes suchte Straton unter ihnen, konnte ihn aber zum ersten Mal nicht entdecken. Nur allzugern legten die Männer ihre Speere ab, stemmten sich gegen den Schiffsrumpf und drückten. Vor Anstrengung bekamen sie knallrote Gesichter und rutschten immer wieder mit den Füßen auf der Gleitbahn aus. Eine Weile mühten sie sich vergeblich ab, dann gaben sie auf. Die Zuschauermenge stöhnte mitleidig. Archimedes grinste nur noch breiter. »Dionysios!« rief er. »Darf ich dich und deine Männer zu einer kleinen Fahrt einladen?«
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