Mein lieber Agathon, erzähle keinem ein Sterbenswörtchen davon. Solange die Chance besteht, daß Karthago mein Verbündeter bleibt, werde ich es so bezeichnen. Und vielleicht ändert sich doch noch etwas in Karthago selbst. Es gibt immer Parteien. Ich habe dort einige Freunde und Hanno ein paar Feinde.«
»Welche Bedingungen haben die Römer bei Messana angeboten?« fragte Agathon trübe, denn beiden war klar, daß Syrakus ohne die Hilfe Karthagos bestenfalls aufs nackte Überleben hoffen konnte.
»Dieselbe, die sie ihren italienischen >Verbündeten< anbieten«, erwiderte Hieron wegwerfend. »Wir akzeptieren eine Besatzung und schicken ihnen im Kriegsfall Hilfstruppen. Ach ja, und bezahlen fünfhundert Silbertalente an die Römer zur Entschädigung für ihre Mühe und Ausgaben beim Krieg gegen uns. Ein höchst unliebsamer Zeitgenosse, dieser Appius Claudius.« Wieder trank er einen Schluck Wasser. »Irgendwelche Anmerkungen?«
Agathon seufzte unglücklich und rieb sich die Nase. »In der Stadt geht das Gerücht um, daß uns die Karthager betrogen haben.«
Hieron schnaubte reuevoll. »Hat aber nicht lange gedauert, bis sie’s herausbekommen hatten! Ich hoffe sehr, es kommt trotzdem nicht zur Panik?«
»Nein, Herr, sie haben gesehen, daß du dich so benimmst, als ob es keinen Grund zur Sorge gäbe. Und außerdem hoffen sie noch immer. Vermutlich ist es richtig, wenn du ihre Ängste nicht noch bestätigst.«
»Ich bin ja so froh, daß du meiner Meinung bist! Soll ich dir mal verraten, worauf sich meine Hoffnung für das Überleben der Stadt gründet?«
Agathon nickte stumm. Hieron schaute in seinen halbleeren Wasserbecher und meinte leise: »Mauern, Agathon, Mauern und Katapulte. Auf offenem Felde sind die Römer fast nicht zu schlagen, aber für die Belagerungstechnik fehlt ihnen die nötige Erfahrung. Sollen sie ruhig Syrakus belagern und vor unseren Mauern sterben. Sollen sie begreifen, wieviel es sie kostet, wenn sie uns zerbrechen wollen. Und dann sollen sie uns akzeptable Bedingungen stellen.« Er leerte den Becher.
»Also das ist der Grund für dein Interesse an Archimedes, dem Sohn des Phidias.«
»Ich würde mich unter allen Umständen für ihn interessieren«, sagte Hieron, während er aufstand und seinen Becher abstellte. »Wenn ich nicht interessiert wäre, die besten Ingenieure zu haben, die es gibt, würde ich es nicht verdienen, König zu sein. Allerdings gebe ich zu, daß es mich momentan schon aufheitert, wenn ich den Burschen nur sehe. Die Römer sind keine großen Katapulte gewöhnt, bereits ein Ein-Talenter wird sie fürchterlich erschrecken - soweit sie überhaupt etwas im Krieg erschrecken kann. Und das ist schätzungsweise nicht allzuviel.« Er gähnte, streckte sich und setzte leichthin hinzu: »Und außerdem spielt er gut Flöte.«
Der Zustand von Phidias hatte sich erneut verschlechtert. Er schlief die meiste Zeit und ließ sich kaum aufwecken. Und wenn er dann wach war, war er oft verwirrt und begriff nicht, wo er sich befand oder was man von ihm wollte. Zum großen Kummer von Archimedes wußte er es anscheinend nicht einmal zu schätzen, daß das Katapult seinen Test bestanden hatte und sein Sohn in der Lage war, die Familie zu versorgen. Hierons Leibarzt war tatsächlich auf Visite gekommen, aber selbst er hatte nichts anderes tun können als zuvor schon der Hausarzt der Familie. So hatte er nur eine Arznei dagelassen, die Phidias nehmen konnte, wenn er Schmerzen haben sollte.
Trotzdem brachte es Archimedes nicht übers Herz, die Hoffnung aufzugeben. Jeden Morgen und jeden Abend ging er ins Krankenzimmer, um nach seinem Vater zu sehen. Er versuchte, ein Gespräch zu beginnen, und wenn das nicht möglich war, setzte er sich einfach hin und rechnete oder spielte Musik, während Phidias schlief.
Zwei Tage nach dem Bankett, am Tag der Vorführung, ging er wie üblich morgens ins Krankenzimmer, wo er seinen Vater schlafend vorfand. Er setzte sich auf die Liege, ergriff die bis aufs Skelett abgemagerte Hand und strich ihm die dünnen, weißen Haare zurück. »Papa?« sagte er. Da wachte Phidias auf und lächelte ihn still an.
»Ich gehe jetzt zum Hafen hinunter«, erklärte er seinem Vater. »Ich liefere dem König einen Beweis für Mechanik.«
Plötzlich klammerte sich die zerbrechliche Hand an ihn. »Geh nicht fort!« bettelte Phidias.
»Ist doch nur für ein, zwei Stunden«, sagte Archimedes.
»Bitte, Medion, geh nicht nach Alexandria!«
»Papa! Das tue ich nicht, ganz gewiß nicht. Ich führe lediglich im Hafen einen Beweis durch. Anschließend komme ich heim und schaue, wie’s dir geht.«
»Bitte, geh nicht wieder fort!« flüsterte Phidias, als ob er nichts gehört hätte, und dann noch leiser: »Kümmere dich an meiner Stelle um deine Mutter und deine Schwester.«
»Das werde ich, Papa«, sagte Archimedes, »ich verspreche es.«
Er blieb noch ein paar Minuten, wo er war, bis sein Vater endlich die verkrampfte Hand löste und wieder einschlief. Ganz vorsichtig stand er auf, um ihn nicht zu wecken, und betrachtete von oben kritisch das gelbe Gesicht. War es Einbildung, oder wirkte die Haut tatsächlich durchsichtig? War neben dem flachen Atem ein Keuchen zu hören, das vorher nicht dagewesen war?
Arata kam herein. Archimedes hatte sie zu seiner Vorführung eingeladen. Sie hatte ihr bestes Gewand angezogen und war schon zum Gehen bereit, aber nach einem Blick auf das Gesicht ihres Mannes rückte sie ihren Stuhl von der Wand und setzte sich, um bei ihm zu wachen. »Ich möchte ihn heute morgen nicht allein lassen«, erklärte sie ihrem Sohn. »Nimm Philyra mit.«
Archimedes protestierte nicht, sondern sagte nur: »Schicke Chrestos, um mich zu holen, falls. falls er nach mir fragt oder irgend etwas anderes passiert. Der König ist mir egal. Ich werde kommen.«
Arata nickte. Archimedes beugte sich vor und gab ihr einen Kuß auf die Stirn, dann trat er in den Hof hinaus.
Mit strahlenden Augen erwartete ihn Philyra bereits in ihrer schönsten Tunika und dem besten Mantel. Eigentlich hätte sie sich mit der Tunika nicht so viel Mühe machen müssen, dachte Archimedes. Bis auf eine Saumbreite war nichts davon zu sehen, denn Philyra war ganz brav von Kopf bis Fuß in cremefarbene Wolle gehüllt. Vor Hitze - oder aus Vorfreude - hatte sie bereits ein rosarotes Gesicht. Daneben warteten Marcus und die junge Agatha, die sich beide in ihrer schlichten Leinentunika wesentlich wohler fühlten. Agatha kam mit, weil eine vornehme Dame immer ihre Zofe dabeihatte, und Marcus trug einen Korb mit Erfrischungen.
»Medion!« rief Philyra. »Du wirst doch nicht diesen Mantel anziehen!« Es war der aus Leinen.
»Während der Vorführung werde ich sowieso keinen Mantel tragen können«, wandte Archimedes ein. »Schließlich kann man im Mantel nicht an einem Seil ziehen. Deshalb dachte ich.«
Philyra schüttelte unnachgiebig den Kopf. Grinsend stellte Marcus den Korb ab, lief nach oben und kam mit dem gelben Mantel wieder. Archimedes fluchte leise vor sich hin, zog aber trotzdem das Ding an, und dann brach die ganze Gruppe auf.
Je näher sie zum Hafen kamen, um so belebter wurden die Straßen. Eine große Menschenmenge drängelte sich in dieselbe Richtung wie sie. Archimedes musterte sie argwöhnisch. »Ist irgend etwas los?« fragte er einen dicken Wasserverkäufer.
»Hast du’s nicht gehört?« antwortete der Wasserverkäufer. »Einer der Ingenieure des Königs glaubt, er kann eigenhändig ein Schiff bewegen.«
»Aber.«, sagte Archimedes blinzelnd, »kommen denn all die Leute, um das zu sehen?«
»Klar«, sagte der Wasserverkäufer tadelnd. »Muß schon ein Anblick sein.«
»Aber - aber woher wissen das denn alle?« fragte Archimedes.
»Man hat es auf dem Marktplatz angeschlagen«, antwortete der Wasserverkäufer. »Was hast du denn damit zu tun? «
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