Als das nächste Lied begann, raschelte es unter den Ziersträuchern. Noch jemand bewegte sich durch den dunklen Garten. Ganz vorsichtig bahnte sich die Gestalt ihren Weg durchs Unterholz. Und obwohl sie sich lediglich als Schatten auf der entgegengesetzten Hofseite abzeichnete, war Marcus überzeugt, daß es nur eine Frau sein konnte. Sie bemerkte Marcus erst, als sie beinahe über ihn gestolpert wäre. »Wer bist du?« Ihre geflüsterte Frage klang ärgerlich.
Delia hatte schlechte Laune. Den Großteil des Nachmittags hatte sie sich über die übliche Sitte geärgert, die ihr die Teilnahme am Bankett untersagte. Anständige Mädchen durften nicht bei Männergelagen zu Tische liegen und schon gar nicht nach Ende der Mahlzeit hereinkommen und anbieten, die Flöte zu spielen. Aber selbst wenn sich die ganze Welt einig war, so vertrat sie diesbezüglich, wie auch in vielen anderen Punkten, eine andere Meinung. Deshalb war sie auch leise hergekommen, um der Musik zu lauschen, aber nun stand hier ein Fremder Wache und hielt sie davon ab!
Aber die unförmige Gestalt unter der Dattelpalme flüsterte lediglich zurück: »Entschuldige, ich bin der Sklave eines Gastes. Ich wollte der Musik zuhören.«
»Oh«, machte Delia. Dann hatte es also gar nichts mit ihr zu tun. Außerdem konnte sie schlecht jemandem etwas verbieten, wozu sie selbst hergekommen war. »Du darfst bleiben«, erlaubte sie ihm.
Sie zog sich ein paar Schritte auf eine Steinbank unter einem wilden Weinstock zurück, und eine Zeitlang lauschten beide schweigend. Dem Volkslied folgte eine Arie von Euripides - hier kam die feierliche Spielart von Leptines zu ihrem Recht -, dann ein Trinklied und schließlich eine Klage. Nach einer Pause tönte plötzlich ein Duett zwischen der Barbitos und den Auloi durch die stille Luft -eine feurige Saitenkaskade und ein Flötenwirbel. Das Ohr konnte dem schnellen und dichten Spiel nur mit Mühe folgen. Strahlend klang die Barbitos durch die Nacht, umtanzt von der Flöte, die bald der Melodie folgte, bald sie konterte und sich plötzlich in einer abschließenden Phrase mit ihr in schockierender, atemberaubender Harmonie vereinte. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann brach donnernder Applaus los.
Zufrieden seufzte der Sklave auf. Plötzlich empfand Delia Sympathie für ihn. Wie sie selbst war auch er vom Feste verbannt und saß nun draußen im Dunklen, um die Musik einzusaugen. »Wessen Sklave bist du?« fragte sie mit gedämpfter Stimme, denn die Musik war momentan verstummt. Die Gäste tranken Wein, und Delia wollte nicht gehört werden.
»Der von Archimedes, dem Sohn des Phidias«, sagte Marcus.
Normalerweise hätte er seinen eigenen Namen hinzugefügt, aber zur Zeit wünschte er sich sehnlichst einen unauffälligen, griechischen Namen.
»Oh!« rief Delia.
Aus dem Klang ihrer Stimme merkte Marcus sehr wohl, daß ihr dieser Mann vertraut war, und biß ärgerlich die Zähne zusammen. Offensichtlich hatte sich der ganze königliche Haushalt über Archimedes unterhalten! Er hatte keine Ahnung, wer diese Frau war, aber die Art und Weise, wie sie ihm die Erlaubnis zum Bleiben gegeben hatte, war typisch für eine freie und einflußreiche Frau.
Nach einem Moment sagte Delia warm: »Dein Herr spielt ausgezeichnet Flöte.«
Marcus wälzte diese Bemerkung so lange in seinem Kopf herum, bis er zu dem Entschluß kam, daß sie harmlos gemeint war. Er gab ein zustimmendes Grunzen von sich und fügte dann hinzu: »Der Mensch auf der Barbitos ist aber auch gut.«
Wieder herrschte langes Schweigen, das nur vom Klang der Stimmen unterbrochen wurde, die sich im Bankettsaal unterhielten, und vom dumpfen Ruf einer Schleiereule aus einer Gartenecke. In Gedanken versunken betrachtete Delia den Schatten des zusammengekauerten Sklaven. Sie kämpfte mit dem dringenden Bedürfnis, sich mit ihm zu unterhalten und ihm etwas Wichtiges mitzuteilen - aber was? Da war eine undefinierbare, innere Anspannung, die ihr zuschrie, sie solle diese vom Schicksal gesandte Begegnung benutzen, um Archimedes davor zu warnen, daß.
Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich. Archimedes warnen - vor ihrem toleranten, großzügigen, allseits beliebten Bruder? Das Schlimmste, was Hieron machen konnte, war, daß er Archimedes lediglich sein vereinbartes Honorar bezahlte! Aber vielleicht war ja gerade das die Botschaft, die sie ihm schicken wollte: Verkauf dich nicht zu billig!
Bei diesem Gedanken wurde ihr eines plötzlich klar: Sie war ganz und gar dagegen, daß sich Archimedes verkaufte, nicht einmal an Hieron und an Syrakus.
»Dein Herr«, sagte sie schließlich, weil sie nicht recht wußte, wie oder womit sie beginnen sollte, »ist er ein guter Herr?«
Auch Marcus hatte diese Frage schon im Unterbewußtsein hin und her gewälzt und dabei entdeckt, daß die Antwort schwierig war. In gewisser Weise war es sogar die falsche Frage, denn er empfand Archimedes höchst selten als seinen Herrn und Meister. Und wenn doch, dann lehnte er ihn ab. Die meiste Zeit war Archimedes für ihn schlicht und einfach - Archimedes, ein leidiges, verblüffendes, beispielloses Phänomen. »Ich weiß es nicht«, sagte er überraschend ehrlich. »Meiner Meinung nach vergißt er die meiste Zeit, daß er tatsächlich mein Herr und Meister ist. Macht ihn das nun zu einem guten Herrn oder zu einem schlechten?«
Delia gab einen ungeduldigen Laut von sich. »Magst du ihn?«
»Meistens«, gestand er vorsichtig.
»Dann hör mal zu«, sagte Delia. »Sag ihm, daß ich ihm alles Gute wünsche. Und dann sag ihm... sag ihm, daß mein Bruder den Ausgang dieses Beweises abwartet, ehe er sich entschließt, was für ein Angebot er ihm machen soll. Wenn alles gut ausgeht, muß er mehr auf der Hut sein, als wenn es schiefläuft.«
Marcus starrte sie an. Im nächtlichen Gartenschatten konnte er nur die glühenden Augen in ihrem blassen Gesicht erkennen. Ihr Bruder. »Ich verstehe nicht!« sagte er verwundert und fügte dann hastig hinzu: »Gnädige Dame, falls der König meinen Herrn wegen irgendeiner Sache verdächtigen sollte.«
»Niemand verdächtigt ihn!« sagte Delia. Sie war Syrakuserin genug, um zu verstehen, daß jeder auf ein Interesse von Seiten des Tyrannen innerlich zuerst mit Furcht reagiert. »Glaub das ja nicht! Hieron würde so etwas nie tun. Es ist nur so, daß er nach Hierons Ansicht eventuell unschätzbar wertvoll werden könnte und daß etwas in seinem Vertrag stehen könnte. Ich weiß nicht, was, das ihn auf eine Weise binden könnte, die ihm später leid tut. Sag ihm nur - er soll aufpassen.« Sie brach ab und biß sich auf die Lippe. Jetzt hatte sie ihre Warnung ausgesprochen, und schon schien sie eine ganz andere Bedeutung zu haben. Durch die Nacht und diese unerwartete Gelegenheit hatte sie sich zum Verrat verleiten lassen, zu einem Bruch der Loyalität, die sie ihrem Bruder schuldete. Ihr wurde ganz heiß im Gesicht, und gleichzeitig war ihr übel vor Scham. Sie sprang auf die Füße. »Nein!« flüsterte sie eindringlich, »sag ihm gar nichts!« Dann drehte sie sich um und tappte durch den Garten davon, als ob sie der Sklave verfolgen würde.
Marcus blieb unter der Dattelpalme zurück. Er war viel zu verblüfft, um sich zu rühren.
Nach vielen weiteren Liedern ging das Gelage zu Ende, und Marcus schlich wieder in den Bankettsaal, um die Flöten einzusammeln. Hier fand er Archimedes in ein Gespräch über Tonarten mit dem Barbitosspieler vertieft, der seinerseits von dem hübschen Knaben geholt wurde. Er machte sich einen Spaß daraus, Marcus höhnisch anzugrinsen, während sie beide darauf warteten, daß ihre Herren das Gespräch beendeten. Marcus war ungeheuer erleichtert, als die Diskussion endlich vorbei war und sie das Haus verlassen konnten.
Längst hatte Archimedes seine Demütigung zu Beginn des Essens vergessen. Sein Flötenspiel war ein Erfolg gewesen. Besonders der Barbitosspieler war sehr liebenswürdig gewesen und hatte gesagt, sie müßten unbedingt wieder gemeinsam spielen. Ein erfreuliches Kompliment, da der Barbitosspieler einer der reichsten und wichtigsten Männer der Stadt und ein bekannter Förderer der schönen Künste war. Archimedes redete sich ein, daß dies zwar nicht wichtig war -schließlich war er Demokrat -, aber erfreulich war es trotzdem. Hurtig schritt er die Straße entlang, wedelte dabei mit einer Ecke seines Mantels und summte vor sich hin.
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