»Mir war aber so, als hättest du gesagt, daß du erst seit dreizehn Jahren Sklave bist!« protestierte der enttäuschte Samnite.
»Nein, nein, schon viel länger!« sagte Marcus. »Viel länger. Ich hatte schon eine ganze Reihe von Herren - Soldaten -, bevor ich an den Vater meines derzeitigen Herrn verkauft wurde.« Das stimmte zwar, allerdings hatte er sie alle nicht recht lange gehabt.
»Haben dich die Römer versklavt?« fragte der Samnite.
»Ja«, bestätigte Marcus.
»Mögen die Götter sie vernichten!« sagte der Samnite. »Mich auch.« Er streckte Marcus die Hand hin.
Marcus machte eine fahrige Bewegung in seine Richtung und verschüttete Suppe auf die Flötenhüllen. Er fluchte. Der Samnite half ihm beim Aufputzen, während der hübsche Knabe kicherte. Der Türhüter stand reglos da und beobachtete alles mit zynischem Blick.
»Wie heißt du?« fragte der Samnite, aber als es ihm Marcus sagte, rief er entsetzt: »Du solltest keinen Namen tragen, den dir ein Römer gab! Dein Vater muß dich Mamertus genannt haben, und bei dem Namen solltest du auch bleiben.«
»Ich wurde als Marcus verkauft«, sagte Marcus, »und kann das jetzt nicht mehr ändern.«
Der Samnite sagte - auf Oskisch - eine herabsetzende Bemerkung über die Griechen und begann dann Marcus auszufragen, aus welchem Teil von Samnium er käme und wann er versklavt worden wäre. Schwitzend schwindelte sich Marcus durch, wobei ihm entsetzt auffiel, wie zynisch der Türhüter lächelte. Zum Glück war der Samnite schon bald restlos mit einem Bericht seiner eigenen Lebensgeschichte beschäftigt und bedrängte Marcus nicht weiter. Leider wurde er ihn trotzdem nicht los. Selbst als die übrigen Sklaven anfingen, über den Krieg und die Preise zu diskutieren, hing der Samnite wie eine Klette an Marcus und dröhnte ihm die Ohren mit dem wunderbaren Samnium und der Bosheit der Römer voll. Marcus hätte ihm nur allzugern gesagt, er solle still sein, aber das wagte er nicht.
Nach einiger Zeit - es schien wie eine Ewigkeit - kam der persönliche Diener des Königs mit einem Kessel voll überraschend gutem, starkem Wein für die Sklaven herein. Er warf Marcus einen kritischen Blick zu. »Bist du der Sklave dieses neuen Ingenieurs?« fragte er, und als Marcus dies bestätigte, fuhr ihn der Diener erbost an: »Zeichnet er immer auf den Tisch?« Daraufhin konnte sich der hübsche Knabe vor lauter Kichern nicht mehr halten. Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, fing der Samnite wieder an.
Nach einer weiteren Ewigkeit tauchte endlich ein anderer Bediensteter des Königs auf und verkündete, die Gäste wären nun für ein wenig Musik bereit. Erleichtert hob Marcus rasch die Flöten auf und machte sich auf den Weg in den Bankettsaal. Ihm war egal, wo er den restlichen Abend verbrachte, solange es nur weit weg von diesem Samniten und - dem Türhüter war.
Archimedes hatte das Essen nicht viel mehr genossen wie sein Sklave. Bei seiner Ankunft hatte sich Hieron zunächst erkundigt, wie es mit den Vorbereitungen für den Beweis voranging. Und dann hatte er einen Fehler gemacht - er hatte geantwortet. Die Vorbereitungen würden gut voranschreiten und das Projekt selbst wäre enorm interessant. Vor Begeisterung wäre er beinahe auf und ab gehüpft. Er erklärte der Gesellschaft bis ins kleinste Detail alles über kombinierte Flaschenzüge und Zahnräder und ging anschließend zu den Hebelprinzipien und den mechanischen Vorteilen der Schraube über. Er skizzierte mit Wein Diagramme auf den Tisch und fuchtelte zur besseren Erläuterung mit Messern und Brotwecken herum. Da Hie-ron und sein Ingenieur Kallippos ab und zu kenntnisreiche und interessierte Fragen stellten, merkte er zuerst gar nicht, daß ihn die restliche Abendgesellschaft wie einen toten Ohrwurm anstarrte, der in ihrer Suppe schwamm. Der Hauptgang war schon zur Hälfte vorbei, als ihm endlich einiges klar wurde: Er hatte praktisch eine geschlagene halbe Stunde ohne Punkt und Komma doziert, die übrigen Gäste betrachteten ihn mit einer Miene zwischen Empörung und absolutem Kopfschütteln, und der persönliche Diener und die Sklaven starrten wütend auf die Sauerei, die er auf dem Tisch angerichtet hatte. Daraufhin lief er knallrot an und verstummte.
Bis zum Ende der Mahlzeit hielt er den Mund, ja er war sogar so verlegen, daß er nicht einmal merkte, was er aß. Der Regent Leptines und die Räte der Stadt diskutierten über Wirtschaftsthemen, in die sich der König gelegentlich mit interessierten Anmerkungen einschaltete. Die Armeeoffiziere und Kallippos besprachen Festungsanlagen, und auch hier beteiligte sich der König immer wieder. Archimedes kam sich unwissend, jung und ungeheuer dumm vor. Endlich trugen die Sklaven den Nachtisch aus Äpfeln und honiggetränkten Mandeln auf. Hieron setzte sich auf und vergoß ein paar Tropfen ungemischten Weins. Mit diesem Opfer an die Götter war das Mahl beendet, jetzt sollte eigentlich der angenehmste Teil des Banketts beginnen. Das Essen war abgetragen, und die Teilnehmer konnten sich voll und ganz dem Wein, den Gesprächen und der Musik widmen.
»Meine lieben Freunde«, sagte Hieron, während die Sklaven eiligst die Becher wieder auffüllten, »ich dachte, angesichts der angespannten und ungücklichen Situation, in der sich unsere schöne Stadt befindet, sollten wir uns ein wenig mit Musik aufheitern. Allen Günstlingen der Musen bereitet das eigene Musizieren sicher mehr Vergnügen als das reine Zuhören. Und da sich unter euch mehrere begabte Musiker befinden, habe ich euch eingeladen, eure Instrumente mitzubringen. Was haltet ihr davon? Sollen wir die Nacht mit Liedern erhellen?«
Selbstverständlich war die ganze Gesellschaft einverstanden.
Und nun eilte eine Anzahl von Sklaven, darunter auch Marcus, mit Schatullen oder Segeltuchhüllen herein. Zu seiner Überraschung sah Archimedes, daß man dem Regenten Leptines eine Kithara und Kallippos eine Lyra reichte. Einer der Räte der Stadt besaß eine Barbitos - eine Art Baßlyra - und einer der Armeeoffiziere eine zweite Kithara. Archimedes war der einzige Aulist. Nervös nahm er seine Flötenhüllen entgegen und warf Marcus einen verblüfften Blick zu. Die Hüllen fühlten sich klebrig an, als ob etwas darauf verschüttet worden wäre. Aber der Sklave zog ein möglichst unbeteiligtes Gesicht und reagierte nicht einmal mit einem Blinzeln auf den Blick. Nach einigem Zögern öffnete Archimedes alle klebrigen Hüllen, steckte die Rohrblätter in die vier Auloi und befestigte sein Mundband.
»Hauptmann Dionysios«, meinte Hieron lächelnd, »ich weiß, daß du eine sehr schöne Stimme hast. Vielleicht könntest du uns beehren? Wie wär’s mit. mit dem »Schwalbenlied«? Das kennt jeder, oder?«
So war es auch. Dionysios, der Sohn des Chairephon, fühlte sich im Hause des Königs kaum weniger heimisch als damals in der Aretbusa. Er stand auf und wartete, bis das Klanggewirr der Instrumente verebbte, dann hob er den Kopf und intonierte das alte Volkslied:
»Komm, komm, Schwälbchen, bring uns den Frühling mit! Bring uns die schönsten Tage, Weißbäuchlein, Schwarzflüglein!«
Marcus hatte es geschafft, durch die äußerste Tür in den Garten zu entwischen. Als die Musik begann, setzte er sich zum Zuhören unter eine Dattelpalme. Im Gegensatz zu dem heißen, stickigen Vorratsraum war die Nacht angenehm kühl, und der Gesang drang klar und deutlich aus dem lampenhellen Bankettsaal herüber. Dionysios hatte tatsächlich eine schöne Stimme, einen klaren, kräftigen Tenor. Für ein Volkslied begleitete ihn Leptines ein bißchen zu getragen, aber dafür griffen die übrigen Spieler rasch den Geist dieser Musik auf, besonders der ausgezeichnete Barbitosspieler. Archimedes hatte sich, wie Marcus bemerkte, für eine Kombination aus Tenor- und Sopranauloi entschieden. Tenor für die Melodie und den Sopran für eine Verzierung aus schwalbenähnlichem Gezwitscher, das wie im Sturzflug hoch über der Melodielinie herumwirbelte. Alles ging gut, und als das Lied zu Ende war, flackerte Beifall auf.
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