Dionysios zog ein absolut ungläubiges Gesicht, und die Männer der Garde schüttelten bedauernd die Köpfe. Aber als Archimedes zum Schiff hinüberrannte und das Fallreep herunterzog, stiegen sie an Bord. Dionysios ging als letzter. Er schaute Archimedes an, als ob er etwas sagen wollte, schüttelte dann aber nur den Kopf und kletterte hinter seinen Männern her.
»Ich auch!« schrie der kleine Gelon und rannte die Gleitbahn hinunter. Als Hieron zustimmend nickte, half Archimedes dem Kind auf die Leiter. Als es zur Hälfte oben war, packte Dionysios den kleinen Jungen an der Hand und zog ihn das restliche Stück in die Höhe. Sofort rannte Gelon zum Schiffsbug, kletterte auf die Gallionsfigur hinauf und winkte Vater und Mutter zu.
Archimedes holte tief Luft, dann ging er zu dem dicken Seil, das aus den Flaschenzügen herausschaute, und vertäute es mit einem Ring, den er fest im Schiffskiel verankert hatte. Mit einer Handbewegung wies er Marcus an, ihm zu folgen, und bahnte sich seinen Weg zu dem Platz, wo das andere, dünnere Seilende nach seinem langen, vielfach gewundenen Weg wieder zum Vorschein kam. Er spürte die aufmerksamen Blicke der Menge auf sich. Aus unmittelbarer Nähe starrte ihn der Ingenieur Kallippos an. Sein verkrampftes Gesicht trug denselben undefinierbaren Ausdruck wie bei ihrer letzten Begegnung. Archimedes versuchte, sich um niemanden zu kümmern, und zog seinen Mantel aus. Plötzlich kam Luft an seine schweißnassen Arme und die klamme Tunika. Die Kühle tat ihm unbeschreiblich gut. Er drückte Marcus den schweren, gelben Wollstoff in die Hand.
»Wird es tatsächlich funktionieren?« flüsterte Marcus nervös.
»Das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete Archimedes. In der Nähe stand ein Stuhl, auf dem er während der Ausarbeitung seines Systems immer gesessen war. Er ging hin und trug ihn aus dem Schatten des Bootshauses in die grelle Sonne hinaus, wo ihn alle sehen konnten, und setzte sich darauf. »Du brauchst nur das Seil aufrollen, sobald ich es dir reiche«, befahl er Marcus und ergriff das Seil.
Sich hinzusetzen, war wirklich mutig, denn im Stehen wäre es wesentlich einfacher gewesen. Er hatte eine Leistung von einem Talent einkalkuliert, aber als er zu ziehen anfing, keimte in ihm der Verdacht, daß er das Eigengewicht des Seiles nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Trotzdem - es war zu schaffen, und wenn er dazu die Fersen in den Boden rammen müßte. Langsam, aber stetig zog er am Seil, eine Hand über der anderen. Hin und her wand sich das Seil durch die Flaschenzüge. Durch die Entfernung, die es zurücklegte, reduzierte sich das Gewicht so lange, bis es seinem eigenen Kraftaufwand entsprach.
Zuerst zitterte das Schiff auf der Gleitbahn nur, aber dann glitt es allmählich ohne Ruckein und Wackeln vorwärts. Es bewegte sich so selbstverständlich, daß die Zuschauermenge anfangs nur murmelte, weil sie nicht sicher war, ob sich das Schiff tatsächlich bewegte. Aber dann schrien einige Leute verunsichert laut auf, bis es immer mehr wurden und schließlich alle in einen wahren Begeisterungssturm ausbrachen. Archimedes hörte Marcus neben sich lachen. Ein Siebentonner und dreißig Männer wurden von einem einzigen Paar Hände und der Kraft eines einzigen Gehirns heraufgezogen.
Archimedes zog das Schiff bis zum Bootshaus hinauf, dann ließ er das Seil fallen und stand auf. Die Menge jubelte noch immer. Er wandte sich ihnen zu - einem Meer aus Gesichtern mit einem Purpurfleck davor, der den König darstellte. Seine Arme zitterten von dem anstrengenden Ziehen, und plötzlich fühlte er sich benommen. Noch nie hatte ihm jemand zugejubelt. Mit Triumphgefühl hatte er gerechnet, aber nicht mit der Angst, die er plötzlich empfand. Bei diesem Beifall fühlte er sich wie eine zur Schau gestellte Mißgeburt.
So außergewöhnlich war alles ja auch wieder nicht, denn die Prinzipien hatte es schon immer gegeben, so unverrückbar wie die Sterne. Er hatte sie einfach nur angewandt. »Oh, Apollon!« flüsterte er, als ob er den Gott aus tiefster Seele um Hilfe bitten wollte.
Marcus packte ihn an der Schulter. »Winke ihnen zu!« flüsterte er, und Archimedes winkte. Die Hochrufe wurden doppelt so laut. Ärgerlich schüttelte er den Kopf.
»Herr«, sagte Marcus, »dein Mantel.«
Wieder schüttelte Archimedes den Kopf und ging ohne den Mantel auf den König zu.
Beim Näherkommen fiel ihm zuerst das Gesicht seiner Schwester auf. Philyra war der Mantel vom Kopf und von einem Arm gerutscht, ihre Haare waren zerzaust, und sie strahlte. Dann sah er, gleich neben ihr, Delia, die immer noch klatschte. Ihre Augen funkelten vor Stolz. Plötzlich war seine unsinnige Angst wie weggeblasen, und er lachte beide an. Philyra raffte ihre Tunika zusammen und rannte lachend zu ihm hinüber. »Medion!« rief sie und umarmte ihn stürmisch. »Das war unglaublich*.«
Er legte einen Arm um sie, sagte aber nichts, sondern ging weiter, bis er dem König gegenüberstand.
Auch Hieron strahlte vor Begeisterung übers ganze Gesicht, und als Archimedes nahe genug herangekommen war, packte er mit beiden Händen eine Hand des Verblüfften und schüttelte sie. »Du könntest tatsächlich die Erde bewegen, nicht wahr?« fragte er grinsend.
»Mit einer zweiten Welt als Stützpunkt«, antwortete Archimedes, »kann das jeder.«
Während ihm der König noch immer lachend die Hand schüttelte, fiel sein Blick flüchtig auf das System aus Flaschenzügen. Er ließ los. »Kann ich es auch versuchen?« fragte er.
Blinzelnd schaute Archimedes zum Schiff zurück, von dem gerade die Wachen heruntersprangen. »Dazu müßte man es erst mit Gewalt die Gleitbahn hinunterschieben«, sagte er entschuldigend. »Und außerdem müßte ich, äh, noch einige Räder verändern.«
Sofort wandte sich Hieron an seine Garde. »Dionysios!« brüllte er. »Hol ein paar Freiwillige und schiebt es wieder hinunter! Diesmal werde ich es heraufziehen!«
»Ich auch!« schrie der kleine Gelon und rannte zu seinem Vater.
»Du kannst mir helfen«, erlaubte ihm der König und hob den Jungen hoch. »Na, los, Obermechaniker, du kannst uns erklären, wo wir ziehen müssen.«
Das Schiff wurde so oft die Gleitbahn hinauf und hinunter bewegt, bis schließlich der Vorarbeiter der Werft heraufkam und den König bat, er möge nicht den Kiel eines tadellosen Schiffes ruinieren. Der König bewegte es, Dionysios bewegte es, und die Leute kämpften sich durch die Menge, um abwechselnd am Seil zu ziehen. Archimedes erklärte das Prinzip des Flaschenzuges so oft, bis er schließlich den Überblick verlor. Geraume Zeit verging. Erst dann fiel ihm auf, daß er Kallippos zum letzten Mal gesehen hatte, als er das Seil in die Hand genommen hatte. Suchend warf er einen Blick in die Runde. Doch statt des Ingenieurs sah er Chrestos, der soeben erhitzt und außer Atem am Rand der Menge auftauchte. Bestürzt starrte ihn Archimedes an, dann bahnte er sich einen Weg durch die verblüffte Menge bis zu dem Platz, wo der Sklave stand.
»Was ist passiert?« wollte er wissen. »Hat dich meine Mutter geschickt?«
Der Junge war vom Laufen so außer Atem, daß er nicht sprechen, sondern nur noch nicken konnte.
»Ist das dein Sklave?« erkundigte sich Hieron ruhig.
Verständnislos starrte ihn Archimedes an. Er hatte nicht gemerkt, daß ihm der König gefolgt war. Dann nickte er und sagte: »Ich habe meine Mutter gebeten, ihn zu schicken, falls mein Vater.«
»Sie sagt.«, keuchte Chrestos, »du sollst. so schnell. wie möglich kommen.«
Die Welt wurde kalt, auch wenn die Sonne noch so heiß brannte, und die Zeit schien stillzustehen.
»Du kannst mein Pferd haben«, sagte der König.
Archimedes schaute dem König in die Augen. Ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit durchflutete ihn. Ein Mitmensch hatte seine Situation ohne jede weitere Erklärung verstanden. »Ich kann nicht reiten«, stieß er erstickt hervor. »Ich werde laufen. Aber, königlicher Herr, meine Schwester.« Er wußte nicht einmal genau, wo sie war. Zuerst war sie noch neben ihm gestanden, aber jetzt fiel ihm auf, daß sie vor einiger Zeit mit Marcus und Agatha fortgegangen war. Vermutlich saß sie irgendwo im Schatten, aber wo? Sie konnte nicht rennen, nicht in dem dicken Mantel und der langen Tunika, aber auch sie sollte jetzt nach Hause kommen, wenn ihr Vater. Sie durfte nicht allein im Hafen zurückbleiben.
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