Delia entspannte sich. »Du hast mir angst gemacht«, beklagte sie sich und setzte sich endlich auf den freien Teil der Liege.
Nachdenklich betrachtete Hieron sie. »Du magst ihn«, stellte er fest.
Wieder wurde sie rot. »Ich habe ihn entdeckt«, sagte sie. »Ich. fühle mich für ihn verantwortlich und möchte nicht, daß er verletzt wird.«
Hieron nickte, als ob er das voll und ganz verstehen würde. »Ich verspreche dir, daß ich ihm nicht weh tun werde. Offen gestanden glaube ich sogar, daß ich damit die Götter beleidigen würde. Es wäre dasselbe, als ob man ein unschätzbar wertvolles Kunstwerk zerstören würde. So etwas wie er ist mir noch nie untergekommen.«
»Ich werde von ihm keine Anweisungen entgegennehmen«, tönte es aus dem Türrahmen. Als sie beide aufschauten, sahen sie Kallippos dort stehen. Der königliche Ingenieur wirkte völlig aufgelöst. Er war zu Fuß gegangen und nun ziemlich verschwitzt und hatte staubige Füße. Wütend funkelte er Hieron an. Delia sprang nervös auf.
Aber Hieron meinte nur lächelnd: »Kallippos, mein Freund, ich bin froh, daß du da bist. Wollen wir in den Bankettsaal gehen und einen Becher kühlen Wein trinken?«
»Ich werde von ihm keine Anweisungen entgegennehmen«, wiederholte Kallippos, als ob Hieron nichts gesagt hätte. »Mein König, ich bin schließlich nicht Eudaimon. Ich kopiere nicht nur, sondern denke auch selbständig. Ich lasse es nicht zu, daß ein anderer für mich denkt. Ich bin zu alt und stamme aus einem viel zu guten Hause, um mich diesem Mann unterzuordnen. Ich trete zurück.«
»So etwas habe ich schon befürchtet«, sagte Hieron. »Aber, mein Freund.«
»Du hast das alles arrangiert!« brüllte Kallippos wütend. »Zuerst hast du ihn angestiftet, etwas Unmögliches zu tun, und dann hast du mich gebeten, daß ich behaupte, er würde es nicht schaffen. Nun, ich hab’s gesagt, das leugne ich auch gar nicht. Und ich habe mich geirrt. Trotzdem werde ich keine Anweisungen von irgendeinem dahergelaufenen Flötenknaben aus einer schmutzigen Hinterhofhütte in der Achradina entgegennehmen!«
»Das erwarte ich ja auch gar nicht von dir«, sagte Hieron.
»Ha!« höhnte der Ingenieur. »Offiziell stellst du ihn gleichberechtigt neben mich, dabei wissen wir beide ganz genau, daß du ihn mir vor die Nase setzen möchtest.«
»Ich habe nicht die geringste Absicht, Archimedes, den Sohn des Phidias, zum königlichen Ingenieur zu ernennen«, erklärte der König. »Andernfalls mögen mich die Götter vernichten.«
Einen Augenblick starrte ihn Kallippos entgeistert an, dann brüllte er: »Dann bist du verrückt geworden! Du hast doch gesehen, was dieser Junge fertiggebracht hat! Glaubst du etwa, ich hätte das geschafft? Ich hätte nicht einmal dieses Katapult bauen können!«
»Mein Freund!« protestierte Hieron. »Du bist der großartigste Ingenieur in den Diensten der Stadt. Wenn du gehst, habe ich keinen Ersatz für dich. Uns allen droht demnächst eine entsetzliche Belagerung. Wenn du jetzt deinen Abschied einreichst, wäre das ein Unglück für ganz Syrakus. Wie kannst du an so etwas auch nur denken? Archimedes ist jung und unerfahren. Ich kenne deine Fähigkeiten und habe nie erwartet, daß du unter ihm arbeitest. Vor dieser Vorführung hatte ich gedacht, daß man ihn möglicherweise neben dir zum gleichrangigen Ingenieur ernennen könnte, aber jetzt sehe ich ein, daß das völlig unmöglich ist. Ich wiederhole noch einmal, ich werde ihm garantiert keine fest bezahlte Stelle geben.«
Kallippos öffnete den Mund zum Sprechen, dann schüttelte er sich. »Mein König«, hob er zum zweiten Mal an, »begreifst du denn nicht, daß er besser ist als ich?«
»Mein Freund«, sagte Hieron, »ich weiß ganz genau, daß ihm Apollon und sämtliche Musen abwechselnd ins Ohr flüstern, aber seine wahre Heimat ist Alexandria. Egal, welche Stellung ich ihm biete, irgendwann einmal wird er sie als Gefängnis empfinden. Also werde ich ihm von vornherein keine feste Stellung geben. Für alles, was er für die Stadt macht, wird man ihn bezahlen, und zwar großzügig, aber es liegt allein an ihm, was er tatsächlich machen wird. So etwas wird ihm viel mehr gefallen als jede Stellung, die ich ihm anbieten könnte. Er ist und war nie dein Rivale. Du bist ein Ingenieur und ein sehr guter obendrein. Er ist ein Mathematiker, der manchmal zufällig Maschinen baut. Wenn wir beide, du und ich, nach reiflicher Überlegung der Meinung sind, daß er etwas zum Wohl der Stadt beitragen könnte, dann sollten wir ihn gemeinsam zu solchen Konstruktionen hinzuziehen. Das ist alles, was ich von dir möchte. Und jetzt, möchtest du jetzt in den Bankettsaal kommen und deine Füße waschen und einen Becher kühlen Wein trinken?«
Erneut starrte Kallippos Hieron an. Die Minuten dehnten sich, dann stieß er einen tiefen, schnaubenden Laut aus, der halb wie Lachen, halb wie Seufzen klang, aber insgesamt doch erleichtert. Da begriff Delia: Eigentlich hatte er nie seinen Abschied einreichen wollen, hatte aber gemeint, ihm bliebe keine andere Wahl. »Ja«, sagte er jetzt. Langsam lächelte er wieder. »Ja, mein König, ich danke dir.«
Delia schaute zu, wie die beiden Männer hinausgingen, dann sank sie wieder auf die Liege. In Wirklichkeit hatte Hieron etwas anderes gesagt, als Kallippos zu hören glaubte. So gut kannte sie ihren Bruder. Hieron hatte genau gewußt, daß Kallippos nie damit einverstanden gewesen wäre, sich einem anderen Mann unterzuordnen. Dafür war er viel zu stolz. Noch dazu, wenn der andere Mann jünger war und aus einer weniger vornehmen Familie kam. Jetzt hatte Hieron die Sache so gedreht, daß sich Kallippos in Zukunft bereit erklären würde, Archimedes bei speziellen Problemen »hinzuzuziehen« und -zweifelsohne - jeden »Rat« anzunehmen. Auch Eudaimon war schon »zur Vernunft« gebracht worden. Jetzt blieb nur noch einer übrig, der noch nicht unter dem Joch war: Archimedes. Aber auch das würde anders ablaufen, als sie befürchtet hatte. Ihr Bruder wäre nie so primitiv, einen Menschen mit einem unerträglichen Anstellungsvertrag zu knebeln. Das hätte sie wissen müssen. Er bevorzugte subtilere und damit stärkere Ketten. Ketten, die in der Grauzone zwischen Manipulation und Wohltätigkeit geschmiedet wurden. Ketten, die mit Geschenken verbrämt und voller Dankbarkeit angenommen wurden. Aber nicht einmal sie konnte abschätzen, welche Ketten er sich für Archimedes ausdenken würde.
Phidias starb gegen vier Uhr nachmittags, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Den ganzen Morgen hatte ihn Arata mit wachsender Besorgnis beobachtet, und als sein Atem gegen Mittag immer schwächer wurde, hatte sie nach ihren Kindern geschickt. Den ganzen, langen, heißen Nachmittag war die Familie um das Bett herumgesessen. Immer wieder hatte der Atem ausgesetzt, hatte wieder angefangen und wieder ausgesetzt. Als schließlich das Ende kam, hatten sie es zuerst gar nicht erkannt und einige Zeit gewartet, ob das matte Keuchen nicht wieder einsetzen würde. Schließlich wurde ihnen klar, daß es vorbei war. Archimedes bedeckte das Gesicht seines Vaters, während sich die Frauen des Haushaltes an die Brüste schlugen und in die schrille, rituelle Totenklage ausbrachen.
Archimedes ging in den Hof hinaus, spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und setzte sich an die Wand. Seine Hände baumelten leblos von den aufgestützten Knien. Er war sich nicht sicher, an welche Art von Leben nach dem Tode er glaubte. Wie die meisten gebildeten Griechen empfand er die Geschichten, die seine eigenen Landsleute über die Götter und die Unterwelt erzählten, als völlig unglaubhaft. Aber als Ersatz dafür blieben auch ihm nur die widersprüchlichen Lehren der Philosophen. Nach Piaton war die Seele die einzig wahre Form. Unsterblich und unwandelbar kämpft sie sich durch das Schattenspiel namens Welt und wird vielfach wiedergeboren, bis sie ihren Weg zu dem Gott zurückfindet, der sie erschaffen hat. Die Seele des Weisen war wie ein König und konnte durch die Tugenden zur ewigen Gemeinschaft mit der Gottheit gelangen. Andere behaupteten, die Seele wäre nur eine Handvoll Atome, die mit dem Körper geboren und sich mit dem Tod des Körpers auflösen würde, und die Götter lebten weit weg von dieser Welt und hätten kein Interesse daran. Woran sollte er glauben?
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