Noch am selben Tage verließ Hannibal mit Masinissa Richads Reich. Hannibal wollte es nicht riskieren, seine beginnende Freundschaft mit dem jungen Numidier noch einmal aufs Spiel zu setzen. In seinem Zorn hatte Masinissa das ausgesprochen, was er und seine Stammesgenossen von den Karthagern hielten.
Wir werden ihnen immer fremd sein, dachte Hannibal.
Karthago raubte Masinissa die Fassung. Die große Stadt setzte jeden auswärtigen Besucher in Erstaunen, nicht nur den jungen Numidier. Wer sie zum erstenmal sah, staunte über die Tempel, die ihre Kuppeln stolz zum Himmel reckten, über die vielen hohen Häuser, über das Menschengewimmel auf den Straßen und Plätzen. Wahrscheinlich gab es allein auf dem Hafenmarkt mehr Menschen als in einem ganzen numidischen Stamm. Sie alle standen obendrein nicht still, sondern wogten hin und her, schienen einen merkwürdigen Tanz aufzuführen. Ihre Stimmen verschmolzen mit dem Gemuhe, Gewieher, Geblöke, Gemecker der unzähligen Tiere.
Es dauerte lange, bis sich Masinissa an den unruhigen Betrieb in der gewaltigen Stadt gewöhnt hatte. Er glaubte geradezu in einer Falle zu sitzen. Auf der Straße stieß er die Vorübergehenden an oder wurde von ihnen gestoßen. Als er einmal mitten auf dem Fahrdamm stehenblieb, um die Stockwerke eines Hauses zu zählen, prallten die Esel, die das Fuhrwerk eines Tonwarenhändlers zogen, gegen ihn. Die Tongefäße fielen auf das Straßenpflaster und zerbrachen. Sogleich sammelte sich eine lärmende Menge und sah müßig zu, wie der wütende Tonwarenhändler ihn packte und schüttelte, als wäre er ein Birnbaum. Zum Glück war Hannibal dabei und konnte seinen Freund erlösen, indem er den Wert der zerbrochenen Tongefäße bezahlte.
Er zeigte Masinissa an diesem Tage seine Vaterstadt.
Sie besuchten auch die Stadtburg Byrsa. Der junge Numidier staunte weniger über ihre dicken Mauern und die Steintreppe, die zum Tempel hinaufführte, als viel mehr über die Sage von der Königin Dido, die Karthago an dieser Stelle gegründet haben soll.
„Schlau war sie, eure Dido!" rief er. „Sie kaufte den Einheimischen so viel Land ab, wie sich mit einer Ochsenhaut begrenzen läßt, und zerschnitt dann die Haut in dünne Riemen, so daß sie um diesen ganzen Hügel herumreichte."
Bei den Schiffen blieb Masinissa lange stehen. Sie kamen ihm vor wie die gewaltigen geflügelten Drachen aus den Sagen und Liedern seines Volkes.
„Komm weg von hier", sagte er zu Hannibal, als dieser ihn in den Tempel des Gottes Melkart führte und ihm die Statue zeigte, der Menschenopfer dargebracht wurden. „Ihr habt schlaue Königinnen und grausame Götter."
Nach einer Woche schien sich Masinissa allmählich an das städtische Leben zu gewöhnen. Er ging durch die Straßen, ohne die Passanten anzustoßen. Wenn er das Gebrüll von Sklaven hörte, die ausgepeitscht wurden, stürzte er nicht in das betreffende Haus, um sie zu befreien. Er kaufte auf dem Markt auch nicht mehr alle Singvögel auf und befreite sie aus den Käfigen.
Deshalb ließ Hannibal ihn eines Tages allein gehen. Von diesem Streifzug kehrte Masinissa erst spät am Abend mit strahlenden Augen zurück.
„Gefällt dir unsere Stadt?" erkundigte sich Hannibal, froh über die gute Laune seines Schützlings.
„Ich war noch nie so glücklich", antwortete der Numidier.
Doch an einem der folgenden Tage stellte er sich ohne Filzhut und mit zerrissener Tunika bei Hannibal ein.
„Was ist dir zugestoßen?" rief Hannibal verblüfft. „Wo warst du? Haben dich die Hunde gebissen?"
„Ja!" schrie Masinissa wütend. „Karthagische Hunde!"
„Beruhige dich, und erzähle mir lieber der Reihe nach, wer dich beleidigt hat und weshalb!"
„Am ersten Tage, als du mir erlaubtest, allein zu gehen", berichtete der junge Numidier hastig, „machte ich mich auf den Weg zum Hafen, weil ich noch einmal die Schiffe betrachten wollte, die aus dem Lande des Sonnenaufgangs stammen. Vor dem Tempel der Liebesgöttin Tanit überholten mich einige Sklaven, die eine geschlossene Sänfte auf den Schultern trugen. Ihr entstieg ein Mädchen, leichtfüßig wie ein Vogel, der sich auf der Erde niederläßt. Ich wußte nicht, wer sie war, aber ich hatte sie sofort in mein Herz geschlossen. Du, Hannibal, stehst mir gegenüber, aber auch jetzt sehe ich nur sie vor mir. Die Göttin Tanit hat mich wohl verzaubert. Ich lehnte mich an eine Säule, da kam das Mädchen aus dem Tempel zurück, stieg in die Sänfte und verschwand wie ein Traumbild. Den ganzen folgenden Tag wartete ich vor dem Tempel. Die Bettler zeigten schon mit Fingern auf mich, und die Tauben der Göttin trippelten zutraulich vor meinen Füßen umher. Ich aber wartete auf sie. Und als sie erschien, fiel ihr Blick auf mich. Was für strahlende Augen sie hat! Wir kamen ins Gespräch, sie schickte die Sklaven mit der Sänfte weg, und ich geleitete sie zu Fuß nach Hause. Ach, wenn du wüßtest, wie sehr ich wünschte, daß ihr Haus am anderen Ende der Stadt, nein, in einer anderen Stadt, einem anderen Land läge! Dann hätten wir so lange nebeneinanderher gehen können, bis die Sterne am Himmel aufleuchteten, bis die Sonne auf- und wieder unterging. Aber der Weg zu ihrem Hause war nur so kurz wie ein Schatten in der Mittagsstunde, und die Zeit bis zu einem Wiedersehen mit Sophonisbe ist nun so lang wie die Ewigkeit."
„Sophonisbe?" wiederholte Hannibal nachdenklich. „Der Name kommt mir bekannt vor."
„Am nächsten Tage ging ich zu ihr. Zwar hielten die Sklaven das Tor vor mir verschlossen, aber ich kletterte über die Mauer." Masinissa verstummte.
„Erzähle weiter!" drängte Hannibal. „Was geschah dann?"
„Ich sprach mit Sophonisbes Vater und bat ihn, mir seine Tochter zur Frau zu geben. Da befahl er seinen Sklaven, mich hinauszuwerfen."
Hannibal biß die Zähne zusammen, daß sie schmerzten. Er fühlte sich schuldig an dem dummen Zwischenfall. Es war falsch gewesen, den Numidier allein durch die Stadt laufen zu lassen! Was für Erinnerungen an Karthago würde Masinissa zurückbehalten, wenn man ihn hier wie einen Bettler hinauswarf.
„Wenn du mein Freund bist", sprach Masinissa, „dann erfülle mir eine Bitte: Nachts hole ich mein Pferd, du wartest an der Mauer von Sophonisbes Haus, ich trage sie auf meinen Armen heraus und reite mit ihr davon. Niemand wird uns einholen."
„Aber Sophonisbes Vater wird sich bei deinem Vater beschweren. Gula ist ein Freund Karthagos, er wird Sophonisbe zurückgeben."
Masinissa schüttelte den Kopf so heftig, daß die Strähne an seinem Hinterkopf Hannibal fast ins Gesicht fegte.
„Wir werden in der Steppe bleiben. Dort will ich uns ein Zelt bauen, Honig sammeln, Wildziegen und Enten jagen. Wir werden Wildbret in Hülle und Fülle besitzen. Den Fußboden und die Wände des Zeltes will ich mit Löwenfellen bedecken, um Sophonisbe vor dem kalten Wind zu schützen."
Hannibal blickte Masinissa nachdenklich an. „Hast du Sophonisbe eigentlich schon gefragt, ob sie einverstanden ist, mit dir zu fliehen?"
„In meinem Lande fragt man ein Mädchen nicht nach seinem Einverständnis. Man entführt es und bezahlt seinem Vater das Lösegeld."
„Aber Sophonisbe ist kein Mädchen deines Stammes. In Karthago herrschen andere Sitten. Es ist noch die Frage, ob sich Sophonisbe in deinem Zelt wohl fühlen wird, ob es ihr gefällt, sich in Tierfelle zu hüllen, Ziegenmilch zu trinken und halbrohes Fleisch zu essen. Sie ist in einem steinernen Hause aufgewachsen, sie pflegt auf einem Teppich zu schlafen, sich mit Rosenöl einzureiben, gebratenes Fleisch zu essen. Wird sie sich an die Einsamkeit gewöhnen, an das nächtliche Löwengebrüll und Schakalengeheul? Hast du dir das überlegt?"
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