Ich fand, daß diese Gesellschaft Barbus nur nützen konnte, aber mich selbst sprachen diese Zeremonien nicht an. Vielleicht fühlte ich mich zu gebildet und zu jung unter diesen ernsten, älteren Männern. Zuletzt begannen sie übrigens Geschichten zu erzählen, aber es waren die gleichen Geschichten, die man auch ohne Zeremonien an allen Grenzen des Römischen Reiches an den Lagerfeuern zu hören bekommt. Ich suchte den Tempel nicht mehr auf.
Doch die Unruhe verließ mich nicht. Bisweilen nahm ich den schäbigen Holzbecher aus meiner verschlossenen Truhe, streichelte ihn und dachte an meine griechische Mutter, die ich nicht gekannt hatte. Zuletzt trank ich, um ihrer zu gedenken, ein wenig Wein aus dem Becher und errötete dabei über meinen Aberglauben. Es war mir in solchen Augenblicken, als fühlte ich die gute, zärtliche Nähe meiner Mutter, aber ich scheute mich, mit jemandem darüber zu sprechen.
Ich begann mich mit schonungslosen Reitübungen zu quälen, denn ich glaubte, größere Befriedigung zu verspüren, wenn ich ein schwer zu reitendes Pferd unter mir hatte, als wenn ich eine Nacht bei Claudia zubrachte und ohne Unterlaß mit ihr stritt. Jedenfalls konnte ich so mein schlechtes Gewissen und meine Selbstvorwürfe zum Schweigen bringen.
Der junge Lucius Domitius zeichnete sich nach wie vor auf dem Reitfeld aus, aber sein höchstes Glück war es, auf einem gut dressierten Pferd schön zu reiten. Er war der Erste unter den jungen Rittern, und Agrippina zuliebe beschlossen wir anderen Mitgliedern des Ritterstandes, ihm zu Ehren eine neue Goldmünze prägen zu lassen. Claudius hatte ihn übrigens noch vor Ablauf eines Jahres adoptiert.
Auf die eine Seite der Münze ließen wir sein feingeschnittenes Knabenprofil prägen und um das Bildnis herum seinen neuen Adoptivnamen: »Für Nero Claudius Drusus und zur Erinnerung an seinen Großvater Germanicus, den Bruder des Claudius.« Die Inschrift auf der anderen Seite lautete: »Die Ritterschaft freut sich ihres Führers.« In Wirklichkeit bezahlte Agrippina diese Münze, die als Erinnerungsgabe in allen Provinzen ausgeteilt wurde, zugleich aber, wie alle im Tempel der Juno Moneta geprägten Goldmünzen, vollgültiges Zahlungsmittel war. Natürlich verstand es Agrippina, eine kleine politische Demonstration zugunsten ihres Sohnes zu veranstalten. Von ihrem zweiten Gatten, Pasienus Crisus, der nur kurze Zeit Lucius Domitius’ Stiefvater gewesen war, hatte sie ein Vermögen von zweihundert Millionen Sesterze geerbt, das sie in ihrer Stellung als Gemahlin des Kaisers und Vertraute des Verwalters der Staatskasse geschickt zu vermehren wußte.
Der Zuname Germanicus war älter und ehrenvoller als der des Britannicus, den wir seiner Fallsucht und Pferdescheu wegen nicht mochten. Sogar über seine Geburt gingen gewisse Geschichten um, da Kaiser Gajus seinerzeit die siebzehnjährige Messalina gar zu rasch mit dem verlebten Claudius vermählt hatte.
Als Freund des Lucius Domitius nahm ich an dessen Adoptionsfest und den damit verbundenen Opferfeiern teil. Ganz Rom war der Meinung, daß er seine neue Stellung auf Grund seiner kaiserlichen Abstammung und seines eigenen angenehmen Wesens verdiente. Wir nannten ihn von diesem Tage an nur noch Nero. Den Adoptivnamen wählte Claudius zur Erinnerung an seinen eigenen Vater, den jüngeren Bruder des Kaisers Tiberius.
Lucius Domitius oder Nero war von allen jungen Römern, die ich kannte, der begabteste. Er war sowohl körperlich als auch geistig reifer als seine Altersgenossen. Er rang gern und besiegte alle, obgleich gesagt werden muß, daß es, bei der allgemeinen Bewunderung, die er genoß, niemand ernstlich darauf anlegte, ihn zu besiegen, um sein empfindliches Gemüt nicht zu kränken. Nero konnte noch immer zu weinen beginnen, wenn seine Mutter oder sein Rhetor Seneca ihn zu streng tadelten. Er wurde von den vornehmsten Lehrern Roms unterrichtet, und sein Lehrer in der Redekunst war Seneca. Ich mochte meinen jungen Freund Nero gut leiden, obwohl ich oft genug bemerkte, daß er geschickt und durchaus glaubwürdig log, wenn er etwas angestellt hatte, was Seneca tadelnswert fand. Doch wer tut das nicht! Außerdem war es nicht möglich, Nero lange böse zu sein.
Agrippina sorgte dafür, daß Nero an den offiziellen Mählern des Claudius teilnahm und im gleichen Abstand wie Britannicus am Fußende von dessen Liegesofa saß. Auf diese Weise konnten die Vornehmen Roms wie auch die Gesandten aus den Provinzen ihn kennenlernen und die beiden Knaben miteinander vergleichen: den aufgeweckten, liebenswürdigen Nero und den mürrischen Britannicus. Agrippina lud die Söhne der vornehmen Familien Roms der Reihe nach an den Tisch der beiden Knaben. Nero übernahm die Rolle des Gastgebers, und Seneca leitete die Unterhaltung, indem er jedem ein Thema stellte, über das er zu reden hatte. Ich glaube, er gab Nero sein Thema im voraus und half ihm bei der Ausarbeitung, denn Nero zeichnete sich jedesmal durch seine gewandte, schöne Sprache aus.
Ich wurde oft eingeladen, denn mindestens die Hälfte der Gäste trug schon die Toga, und Nero schien mich aufrichtig gern zu haben. Bald war ich es jedoch müde, immer wieder zu hören, wie die Redner ihren Vortrag mit denselben abgedroschenen Versen des Vergil oder Horaz oder mit Zitaten aus den Werken griechischer Dichter aufputzten. Deshalb begann ich mich auf diese Einladungen dadurch vorzubereiten, daß ich Senecas Werke las und mir seine Lieblingssentenzen über die Beherrschung des Zorns, die Kürze des Lebens und die unerschütterliche Ruhe des Weisen unter allen Schicksalsschlägen einprägte.
Als ich Seneca kennenlernte, empfand ich hohe Achtung vor ihm, denn es gab nichts auf der Welt, worüber er nicht mit seiner vorzüglich geschulten Stimme ein paar kluge, wohlüberlegte Worte zu sagen wußte. Nun wollte ich jedoch erproben, ob die Unerschütterlichkeit des Weisen auch größer war als die natürliche Eitelkeit des Menschen.
Selbstverständlich durchschaute Seneca mein Spiel, denn er war nicht dumm, aber es gefiel ihm offensichtlich, seine eigenen Gedanken im Verein mit denen der Großen der Vergangenheit ausgesprochen zu hören. Ich war noch dazu so durchtrieben und nannte nie seinen Namen, wenn ich ihn zitierte, denn das wäre eine gar zu grobe Schmeichelei gewesen, sondern sagte nur: »Ich las unlängst irgendwo …« oder: »Ich muß immer an folgenden Ausspruch denken …«
Nero machte den Stimmbruch durch, unter dem er sehr litt, und erhielt mit vierzehn Jahren die Toga. Das Opfer für Jupiter vollzog er als ein ganzer Mann, und er sagte die Opferlitaneien auf, ohne zu stottern und sich zu wiederholen. Die Leberschau ergab nur die günstigsten Vorzeichen. Nero lud die Jugend Roms zu einem großen Gastmahl, und der Senat beschloß einstimmig, daß er den Konsulsrang erhalten sollte, sobald er zwanzig war. Damit, nämlich als zukünftiger Konsul, bekam er unmittelbar Sitz und Stimme im Senat. Von Rhodos, der berühmten Insel der Philosophen, kamen Gesandte und baten um die Wiederherstellung der Freiheit und Selbstverwaltung der Insel. Ich weiß nicht, ob Claudius nicht ohnehin schon milder gegen die Bewohner von Rhodos gestimmt war. Jedenfalls war Seneca der Ansicht, daß dies die denkbar günstigste Gelegenheit für Nero sei, seine erste Rede in der Kurie zu halten. Mit Senecas Hilfe bereitete sich Nero in aller Heimlichkeit sorgfältig vor.
Mein Vater erzählte mir, daß er seinen Ohren nicht traute, als Nero nach der Rede der Gesandten und einigen sarkastischen Bemerkungen von Seiten der Senatoren plötzlich aufstand und »Ehrwürdige Väter!« rief. Alle wachten auf und blickten ihn erwartungsvoll an. Als Claudius durch ein Kopfnicken seine Zustimmung gegeben hatte, stieg Nero auf die Rednertribüne und sprach mit leidenschaftlicher Begeisterung von der ruhmreichen Geschichte der Insel Rhodos, ihren berühmten Philosophen und den großen Römern, die auf Rhodos ihre Bildung vollendet hatten. »Hat nicht die rosenduftende Insel der Weisen, der Gelehrten, der Dichter und Redner genug für ihren Irrtum gebüßt, und wird dieser nicht durch ihre Berühmtheit wiedergutgemacht!« Und so fort.
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