Die Worte im >Scientific American< verschwammen vor seinen Augen. Er hörte Geräusche aus dem Foyer. Das Ausstellungsstück des heutigen Tages war eine weitere Freiheitsglocke, diesmal aus Harrisburg, einen Meter hoch und vollkommen aus Zucker. Hinter der Glocke trat Stanley hervor.
In diesem Herbst würde sich Stanley ohne Gegenkandidat zur Wiederwahl als Repräsentant der Vereinigten Staaten von Lehigh Station stellen. Es wäre seine dritte Amtsperiode. Stanley war jetzt sehr korpulent, doch eine Aura der Macht umgab ihn, wie es bei fast allen der Fall war, die nach Washington gingen. Sein frettchenhafter Sohn Laban, der Popcorn aus einem Beutel mampfte, begleitete ihn.
George legte die Zeitschrift beiseite und ging auf seinen Bruder zu, um ihm die Hand zu schütteln. Es war Freitag, der letzte Tag im Juni; die Uhr zeigte auf halb eins.
»Der Zug hatte Verspätung«, sagte Stanley, ohne sich zu entschuldigen.
»Der Tisch ist reserviert«, sagte George. »Ich hab' dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Laban. Wie geht's dir?«
»Das Geschäft floriert«, sagte der junge Anwalt mit einem Grinsen.
Stanley strich sich über den Backenbart. »Wo essen wir?«
»Bei Lauber's«, sagte George, während sie hinausgingen und sich durch die Menge drängten. Ganz links am Ende der Foun-tain Avenue pfiff ein Zug, der alle fünf Minuten für fünf Cent eine Besichtigungstour durch das Gelände machte.
George musterte die Menschenmenge voller Befriedigung. »Gestern hatten wir mehr als fünfunddreißigtausend zahlende Besucher.« Nach dem Andrang bei der Eröffnung waren die Frequenzen auf ungefähr zwölftausend pro Tag zurückgegangen.
»Immer noch ein Verlustgeschäft«, sagte Stanley.
Das stimmte. Die Bevollmächtigten hatten ihren Kampf gegen die Geistlichen von Philadelphia verloren, die darauf be-harrten, daß religiöse Gefühle verletzt würden, wenn die Ausstellung auch an Sonntagen offen wäre. Obwohl die meisten Amerikaner sechs Tage in der Woche arbeiteten, konnten sie die Ausstellung nicht an ihrem freien Tag besuchen.
»Nun, es gäbe diese Ausstellung gar nicht, wenn das Haus nicht diese anderthalb Millionen bewilligt hätte«, sagte George.
»Ich werde dir für deine Unterstützung in diesem Punkt stets dankbar sein.«
»Nicht der Rede wert«, sagte der Kongreßabgeordnete Hazard, der sich in letzter Zeit als das gab, was er war: ein älterer Bruder. George lächelte, aber Stanley bemerkte es nicht.
»Wann kommen die anderen an?« fragte Laban und warf seinen leeren Popcornbeutel auf den Boden.
»William und Patricia sind mit ihren Familien bereits da«, sagte George. »Wir treffen uns mit ihnen in dem deutschen Restaurant. Die nächste Gruppe sollte heute abend eintreffen. Or-rys Cousin Charles hat den weiten Weg aus Texas gemacht.«
Zur gleichen Zeit saßen Colonel Charles Main, seine Frau Willa und ihr zwölfjähriger Sohn Augustus in dem Zug von New York nach Philadelphia. >Colonel< war ein Ehrentitel, der Charles von seinen Nachbarn verliehen worden war, als diese merkten, daß er reich und damit bedeutend wurde.
Charles trug sein Haar immer noch lang; seine Kleidung entsprach dem, was er war, ein wohlhabender Rancher: handgefertigte Stiefel, ein cremeweißer Hut mit breiter Krempe und ein bauschiges Halstuch anstatt einer Krawatte. Einen halben Tagesritt westlich von Fort Worth besaß er fünfundfünfzigtausend Acres Land und arbeitete gerade daran, diese Fläche zu verdoppeln. Jeden Sommer trieben seine Cowboys eine riesige Herde nach Kansas. Seine Ranch hieß Main Chance; sein Pferd Satan führte dort ein bequemes Rentnerleben. Außerdem gehörten ihm mehrere große Häuserblocks in Fort Worth und das verschwenderische Parker-Opernhaus, das noch kein Jahr alt war.
Während der Zug durch das Farmland von New Jersey schnaufte, las Charles mit Hilfe einer Brille in einem Buch. Sein Sohn, an dessen Wange immer noch eine lange, schmale Narbe zu sehen war, hatte sich zu einem ernsten, dunkeläugigen Jungen entwickelt, der wie sein Vater groß und muskulös zu werden versprach. Willa liebte ihn wie ihr eigenes Kind; so sehr sie es sich auch wünschte, es war ihr versagt geblieben, selbst Kinder zu bekommen.
Charles lachte ohne jede Herzlichkeit. Das Buch war vor zwei Jahren erschienen und trug den Titel >Mein Leben in der Prärie<.
»Ich wußte gar nicht, daß es ein lustiges Buch ist«, sagte Wil-la. Gus starrte aus dem rußverschmierten Fenster.
»Ist es auch nicht«, sagte Charles. »Aber es ist verdammt clever gemacht. Ich meine, die Knochen sind da. Was fehlt, ist das Fleisch. Das blutige Fleisch. Eines der Cheyenne-Kinder, die wir töteten, bezeichnet Custer beispielsweise als >dunklen kleinen Häuptling< und >tapferen Kämpfer<.« Er legte sein Lesezeichen hinein und klappte das Buch zu. »Er hat blumige Phrasen wie Desinfektionsmittel darübergegossen. Es war ein Massaker.«
»Was der Beliebtheit des Buches keinen Abbruch getan zu haben scheint.«
»Auch nicht der Reputation des Generals«, sagte Charles voller Abscheu.
Georges Sohn William III. und dessen Frau Polly gingen knapp vor George und Stanley die Stufen zu >Lauber's Restaurant< hinauf. William war in braves Methodistenschwarz gekleidet. Er war jetzt siebenundzwanzig und im dritten Jahr seines Pastorats in einer kleinen Kirche in der Stadt Xenia, Ohio. Obwohl Constance ihn im römisch-katholischen Glauben erzogen hatte, war er Methodist geworden; Polly Wharton, deren Vater ein Methodistenbischof war, hatte ihn nicht nur zum Ehemann erkoren, sondern auch zu ihrem Glauben bekehrt. Sie hatte als Lehrerin ihren gemeinsamen Lebensunterhalt verdient, während er das Seminar besuchte.
Sie hatten keine Kinder; das machten allerdings die drei Kinder von Patricia, die alle noch keine sechs Jahre alt waren, mit ihrem Lärm mehr als wett. Patricia lebte in Titusville, ihr Ehemann, Fremont Nevin, gab den >Titusville Independent< heraus. George mochte den hochgewachsenen, nachdenklichen Emigranten aus Texas, auch wenn dieser Demokrat war. Die Kinder hießen Constance Anne, Fremont Junior und George Hazard Nevin. Der kleine George Hazard, der zwischen den Bohrtürmen von Titusville aufwuchs, sagte jetzt schon, daß er mal ein Ölmann werden wollte.
»Was ist mit Großvater Flynn, Papa?« fragte Patricia, nachdem sie alle saßen.
»Er hat eine sehr nette Grußbotschaft geschickt, nachdem ihm Billy die Einladung überbracht hatte. Er ist schon ziemlich alt und wollte die weite Reise von Los Angeles nicht mehr auf sich nehmen. Er meinte, im Geist sei er bei uns. Ich glaube, er bearbeitet immer noch einige Fälle, die ihn interessieren. Eine bemerkenswerte Persönlichkeit - wie seine Tochter«, fügte er mit einem kleinen, rauhen Unterton in seiner Stimme hinzu.
Nevin, dessen Spitzname Champ war, zündete sich eine Zigarette an und sagte zu Stanley: »Wir werden Hayes im November schlagen. Gouverneur Tilden ist ein starker Kandidat.«
»Ich bin hier, um zu essen, und nicht, um über Politik zu diskutieren, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Stanley mit aufgeblasener Würde. George machte dem Kellner ein Zeichen. Laban zupfte die Serviette auf seinem Schoß zum drittenmal zurecht. Er beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Er mochte keines der anderen Familienmitglieder.
»Wir haben eine Suite mit einem Schlafzimmer reserviert«, sagte der Mann an der Rezeption des luxuriösen Continental Hotel, Ecke Chestnut und Ninth Street. In der Lobby herrschte Chaos; zwei Gentlemen, die wegen ihrer nicht existierenden Reservationen herumbrüllten, verstärkten den Lärm noch.
Auch der Angestellte hob seine Stimme. »Sollen wir für Ihre Dienerin eine Matratze in das Wohnzimmer legen?«
Jane, die hinter Madeline stand, schaute bekümmert drein, aber sie war zu müde zum Kämpfen. Es war eine lange Fahrt gewesen. Madeline war staubbedeckt und schlecht gelaunt und nicht geneigt, eine ähnliche Zurückhaltung an den Tag zu legen. »Sie ist nicht meine Dienerin, sondern meine Freundin und Reisebegleiterin. Sie braucht ein Bett, wie ich es habe.«
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