Des' Kenntnisse des Tanzes waren sehr umfassend. Er hatte den Plankentanz der Grenzpioniere gesehen, bei dem zwei Männer auf einem auf zwei Fässern ruhenden Brett tanzten, bis einer herunterfiel. Auf den Plantagen hatte er den Tanz der Sklaven beobachtet, der seine Wurzeln in Afrika hatte und aus komplizierten Schritten unter Einsatz von Fersen und Zehenspitzen bestand, wobei mit Tierknochen der Rhythmus geschlagen wurde. Im allgemeinen verboten die Plantagenbesitzer ihren Sklaven den Gebrauch von Trommeln, aus Furcht, es könnten damit geheime Botschaften über Rebellionen und Brandanschläge übermittelt werden.
Viele Stunden lang hatte er über einem Porträt von Thomas D. Rice geträumt, diesem großartigen weißen Tänzer, der zu Beginn des Jahrhunderts sein Publikum mit der Verkörperung des schwarzen Jim Crow zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Des kannte das ganze Universum des amerikanischen Tanzes, doch den Leuten, die ihn bezahlten, gestand er, daß er nur die Tänze wirklich liebte, die er selber lehrte.
Der erste Kanonenschuß bei Fort Sumter zerfetzte sein Universum. Er schloß sich sofort den Palmetto Rifles an, einer von seinem besten Freund, Captain Ferris Brixham, organisierten Einheit. Von den ursprünglich achtzig Männern waren im April dieses Jahres nur noch drei übriggeblieben, als General Joe Johnston mit der letzten Armee der Konföderierten bei Dur-ham Station, North Carolina, kapitulierte. In der Nacht vor der Kapitulation wurden Des und Ferris auf der Suche nach etwas Eßbarem von einem brutalen Yankee-Sergeant und vier seiner Männer erwischt und bewußtlos geschlagen. Des überlebte; Fer-ris starb in seinen Armen, eine Stunde nachdem Offiziere die Kapitulation verkündet hatten. Ferris hinterließ eine Frau und fünf kleine Kinder.
Verbittert schlug sich Des bis nach Charleston durch, wo ihm ein fünfundachtzigjähriger Onkel mitteilte, daß Sally Sue im Januar an Lungenentzündung und Unterernährung gestorben sei. Als wäre das noch nicht genug, waren die LaMottes während des Krieges von Mitgliedern einer anderen Familie im Ashley-Bezirk mit Schimpf und Schande bedeckt worden. Das war mehr, als Des ertragen konnte. Sein Verstand setzte aus. Es kam ein Monat, von dem er nicht mehr die geringste Erinnerung besaß. Verwandte kümmerten sich um ihn.
Jetzt ritt er auf seinem Maultier durch die Sümpfe, auf der Suche nach früheren Kunden oder Leuten, die sich Unterrichtsstunden für ihre Kinder leisten konnten. Er fand niemanden. Hinter ihm marschierte barfuß sein fünfzigjähriger Diener, ein arthritischer Schwarzer namens Juba; es war ein Sklavenname, der >Musiker< bedeutete. Des hatte gleich nach seiner Heimkehr Juba einen Vertrag über ein lebenslanges Dienstverhältnis unterschreiben lassen. Die neue Freiheit, die der legendäre >Linkum< ihnen beschert hatte, erschreckte Juba. Nur zu bereitwillig setzte er sein Zeichen unter das Papier, das er nicht lesen konnte.
Juba marschierte im Sonnenschein dahin, eine Hand auf dem Hinterteil des Mulis, auf dem ein Mann saß, der nur zwei Ziele kannte: seinen Beruf, den er liebte, wieder in einer Welt auszuüben, in der die Yankees die Ausübung dieses Berufes fast unmöglich gemacht hatten, und jene zur Rechenschaft zu ziehen, die zu seinem Unglück und dem seiner Familie und seiner Heimat beigetragen hatten.
Das war der Mann, der nun seiner Begegnung mit Cooper Main entgegenritt.
Eine ungefähr 75 Zentimeter breite Gelbkieferplanke lag über einer Stelle des Salzsumpfes, die ansonsten unpassierbar gewesen wäre. Cooper erreichte das eine Ende der Planke, kurz bevor der linkische Bursche mit seinem kummervoll dreinschauenden Neger am anderen Ende ankam.
Einige Meter von dem Übergang entfernt sonnte sich ein Alligator auf einem trockenen kleinen Hügel. In den Küstensümpfen kamen sie häufig vor. Bei diesem hier handelte es sich um ein ausgewachsenes Exemplar: zwölf Fuß lang, wahrscheinlich fünfhundert Pfund schwer. Aufgeschreckt von den Störenfrieden glitt er ins Wasser und tauchte unter. Nur seine Augen ragten aus dem Wasser und zeigten an, daß er langsam auf die Planke zuglitt. Wenn sie zu hungrig waren oder einen Menschen oder ein Tier als Bedrohung ansahen, konnten Alligatoren durchaus gefährlich werden.
Cooper bemerkte den Alligator. Schon als Kind hatte er diese Tiere oft genug zu Gesicht bekommen, aber ihr Anblick erschreckte ihn immer noch. Selbst jetzt quälten ihn gelegentlich Alpträume, in denen er ihre zahnstarrenden Kiefer vor sich sah. Er schauderte, als die Augen näherglitten. Plötzlich tauchten sie weg, und der Alligator schwamm davon.
Cooper kam der junge Mann mit dem Knebelbart irgendwie bekannt vor, aber er wußte nicht, wohin er ihn stecken sollte. Vom anderen Ende der Planke hörte er ihn sagen: »Machen Sie Platz!«
Gereizt entgegnete Cooper: »Ich sehe keinen Grund ...«
»Ich wiederhole, Sir, machen Sie Platz.«
»Nein, Sir. Sie sind impertinent und anmaßend. Außerdem kenne ich Sie nicht.«
»Aber ich kenne Sie, Sir.« Der Blick des jungen Mannes verriet unterdrückte Wut, doch seine Stimme behielt den freundlichen Konversationston. Der Widerspruch ließ Coopers Nerven zucken.
»Sie sind Mr. Cooper Main aus Charleston. Die Carolina Shipping Company. Mont-Royal-Plantage. Desmond LaMotte, Sir.«
»Ah ja. Der Tanzlehrer.« Nachdem das geklärt war, trieb Coo-per sein Pferd über die Planke.
Es war, als würde man ein Streichholz in trockenes Gras werfen. Des jagte sein Muli voran. Hufe klapperten über die Planke. Das Maultier erschreckte Coopers Pferd, das zur Seite trat und stürzte. Cooper drehte sich in der Luft, um nicht unter das Pferd zu kommen, und landete in den Untiefen neben seinem Pferd. Er kämpfte sich unverletzt, aber schlammbedeckt wieder hoch.
»Was zum Teufel ist mit Ihnen los, LaMotte?«
»Schande, Sir. Schande, das ist es, was los ist. Oder versteht Ihre Familie nicht mehr die Bedeutung von Ehre? Sie mag so wenig greifbar sein wie das Sonnenlicht, spielt aber nichtsdestoweniger eine bedeutende Rolle im Leben.«
Cooper, tropfend und trotz Hitze fröstelnd, fragte sich, ob er hier jemanden vor sich hatte, den der Krieg um den Verstand gebracht hatte. »Ich habe keine Ahnung, was um alles in der Welt Sie meinen.«
»Sir, ich beziehe mich auf die Tragödie, die Ihre Familie über Mitglieder meiner Familie gebracht hat.«
»Ich habe keinem einzigen LaMotte irgend etwas angetan.«
»Andere mit Ihrem Namen haben sündige Dinge getan. Sie alle haben die Ehre der LaMotte-Familie in den Schmutz gezogen, als sie zuließen, daß Colonel Main meinem Cousin Justin Hörner aufsetzte. Vor meiner Heimkehr meuchelte Ihr entlaufener Sklave Cuffey meinen Cousin Francis.«
»Aber ich sage Ihnen doch, ich hatte damit nichts zu tun.«
»Wir Überlebenden haben einen Familienrat abgehalten«, unterbrach ihn Des. »Ich bin froh, daß ich Sie getroffen habe, denn das erspart es mir, Sie in Charleston suchen zu müssen.«
»Wozu?«
»Um Ihnen mitzuteilen, daß die LaMottes übereingekommen sind, diese Ehrenschuld zu begleichen.«
»Sie reden Unsinn. Das Gesetz verbietet Duelle.«
»Ich spreche nicht von Duellen. Wir werden andere Mittel einsetzen - zu einem Zeitpunkt und an einem Ort unserer Wahl. Aber wir werden die Schuld begleichen.«
Cooper griff nach den Zügeln seines Pferdes. Von dem Tier und von Coopers Ellbogen tropfte das Wasser in das Schweigen hinein. Er hätte sich gern über diesen wirren jungen Mann lustig gemacht, aber das, was er in LaMottes Augen sah, hielt ihn davon ab.
»Wir rechnen mit Ihnen ab, Mr. Main, oder wir rechnen mit der Niggerwitwe Ihres Bruders ab oder mit Ihnen beiden. Verlassen Sie sich darauf.«
Mit diesen Worten ritt er weiter; die Maultierhufe knallten auf der Planke wie Pistolenschüsse. Nachdem er wieder festen Boden erreicht hatte, folgte ihm sein Diener mit gesenktem Kopf, ohne auch nur einen Blick auf Cooper zu werfen.
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