Wilhelm Walloth - Seelenrätsel
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Wilhelm Walloth
Seelenräthsel
I
Die Landstraße herab, die von der Residenz D. nach dem Odenwald führt, rollte um das Jahr 18.. ein schwerbepackter Reisewagen, der auf seinem Schlage das gräfliche Wappen derer von Ibstein zeigte. In den Polstern des Wagens lehnte schlummernd die alte Erzieherin, jetzt Gesellschafterin der jungen Gräfin Isabella, während diese Letztere ihr aristokratisches Näschen, das eine kleine Neigung nach oben zur Schau trug, vergnügt zum Kutschenfenster hinausstreckte. Frau von Pork, die Gesellschafterin, begann gelinde zu schnarchen; das Schwanken des gut gefederten Wagens brachte den altmodischen Kopfputz der Dame zuweilen in feindlichen Zusammenstoß mit den Wänden, die Räder warfen den Staub auf die Sitze, die Stöße, die einige, allzu große Chausseesteine den Insassen versetzten, grenzten manchmal anʼs Unbehagliche und die junge Morgensonne verbreitete in dem geschlossenen Raum eine keineswegs angenehme Temperatur. Dies Alles verhinderte jedoch die Gräfin nicht, sich an der Schönheit der Landschaft zu weiden.
Fern herüber glänzte ja bereits das Ziel ihrer Reise, das Schloß zu Ibstein, auf welchem sie diesen Herbst zubringen sollte, auf Wunsch des Vaters. Dieser stolze Wald, dessen Dunkel der Wagen jetzt aufnahm, die Wiese, auf der ein buntes Gewebe von Dolden, Blumen und Schmetterlingen zitterte, der See, in dem sich die finsteren Föhren so stumm beschauten, dieser ganze Park, diese reiche Landschaft mit ihren fernen Dörfchen, getaucht in das warme Gold eines duftigen Herbstmorgens, gehörte zum Besitzthum des Grafen Ibstein. Wie rief der Anblick dieses Schlosses, dieser Hügel längst verklungene Jugenderinnerungen in der Brust Isabellaʼs wach. Sie zählte neunzehn Jahre; vor zwölf Jahren hatte sie diese Stätte zum letzten Mal an der Hand ihrer früh verstorbenen Mutter besucht und es war ihr nun, als habe dieser herrliche Park sie in treuem Angedenken behalten. Das Rauschen seiner Baumwipfel tönte ihr wie ein Gruß der verlorenen Kindheit, wie ein Mahnen an die hohe, schlanke Frau, die sie damals aus dem Wagen gehoben, leidenschaftlich an die Brust gedrückt hatte und die so strahlende, fast milde Augen hatte, immer mit dem Vater auf die Jagd ritt, immer so silberhell lachen konnte und die nun unter der Erde ruhte. Die Kutsche mäßigte jetzt ihre Schnelligkeit, man bog um eine Waldecke, und Isabellaʼs Augen zuckten, als sie rechts vom Weg, versteckt im Dunkel der Cypressen, ein der damaligen Zeit entsprechend, freilich recht unschönes Denkmal erblickten. Der sandsteinerne Engel auf der epheubewachsenen Säule schien auf der Erde die Tanzstunde besucht zu haben, er drückte die Fackel mit liebenswürdiger Grazie zu Boden, seine Waden überschritten alle schicklichen Dimensionen, der Schmerz seiner Züge grenzte gelinde an den Ausdruck des Blödsinns, auch glich der Schmetterling, der da auf dem Sockel eingemeiselt schwebte, allzusehr einer Omlette. Zwei halbrunde Steinbänke umschlossen den ovalen Platz, regelrecht geschnittene Taxushecken bildeten seine düstre Wand, über welcher obeliskenartig mehrere Pappeln emporragten, im Verein mit dem Grabmal dem Ort eine sanfte Melancholie verleihend. Hoch oben lachte der Himmel hell auf die dunklen Büsche herab. Isabellaʼs Züge wurden ernster, sie erinnerte sich der Mutter, die unter diesem Steine ruhte, wenig mehr. Diese Stelle, über der jetzt der Schleier einer conventionellen, langweiligen Trauer ruhte, sollte Gräfin Elgaʼs Lieblingsplatz gewesen sein, auf welchem sie die französischen Tragiker und die englischen Humoristen las und auf welchem sie begraben zu werden wünschte. Wäre es vielleicht schicklich, hier auszusteigen? dachte das Mädchen. Aber was bot ihr dieser schlechte Stein? Und sollte sie vor den Lakaien ihr Inneres zeigen? Es widerte sie an, für gefühlvoll gehalten zu werden. Nein! was geht es die Anderen an, was ich denke, sie mögen mich für herzlos halten! Weiter! an dem Grabmal vorüber, dessen goldne Inschrift verblaßt war, wie die Erinnerung Desjenigen, der sie mit Prunk einst setzen ließ. Ja! Der Vater hatte die Mutter, obgleich er sie liebte, vergessen. Er war so sehr in Anspruch genommen, der gute Vater; der Herzog bedurfte seiner so häufig und der Graf, der gutmüthige Lebemann, hatte von jeher an einem etwas unsicheren Gedächtnis gelitten. Isabella nahm sich vor, dem Vater zu schreiben, daß das Denkmal einer Restauration dringend bedürfe. Der gute Vater würde darüber in große Verlegenheit geraten, einige aufrichtig geweinte Thränen vergießen, sich selbst anklagen, sogleich versprechen, die nöthigen Schritte zu thun und dann die Sache auf sich beruhen lassen. Das Mädchen lehnte sich in die Kissen zurück, während Frau von Pork behaglich weiter schnarchte. Nun lichtete sich der Wald, ein Teich ward sichtbar, in dessen fast schwarzem Wasserspiegel sich eine baufällige Hütte beschaute. Unbeweglich glänzend wie Quecksilber lag der Teich in seinem Hügelbecken und als sich nun der Wagen langsam näherte, gewahrte Isabellaʼs Auge einen hellgrünen, übermäßig großen Sonnenschirm, der wie ein riesiger, schief gewachsener Giftpilz aus dem Schilfgestrüpp hervorragte. Noch einige Schritte hatte sich der Wagen weiterbewegt; nun löste sich das Rätsel dieses Schirmes, in seinem Schatten saß auf einem Feldstuhl ein hemdärmeliger, junger Mann, der mit eifriger Hand die vor ihm aufragende Leinwand bepinselte, zuweilen hastig dem Teich nebst dem baufälligen Häuschen Blicke zuwerfend. Also ein Maler! Isabellaʼs weiße Stirne bildete eine ganz kleine Falte über dem reizenden Näschen. Wer wagte es, ohne Erlaubnis in das Besitztum des Grafen Ibstein zu dringen? Die Falte vergrößerte sich. Und dieser Mensch schien so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er nicht einmal das Rollen des näherkommenden Wagens bemerkte. Nun hob er zwar flüchtig den Kopf, da der Kutscher mit der Peitsche klatschte, wandte sich jedoch wieder gleichgültig der Leinwand zu. Isabella hatte gute Lust, den kecken Eindringling zur Rede zu stellen, vielleicht auch erregte seine Arbeit ihre Neugier und dann war es doch schmeichelhaft, wenn man Partieen aus dem Park des Grafen Ibstein für malerisch hielt – der Schelm erwachte in dem kleinen Trotzkopf, der mit so zierlichem Stumpfnäschen versehen war, die alte, kindliche Abenteurersucht, das Bedürfnis, etwas zu erleben, machte sich ebenfalls geltend, kurzum, Isabellaʼs zarte, behandschuhte Hand klopfte leise an das Glasfenster, und der Kutscher, dies Zeichen aus langer Erfahrung kennend, hielt die Pferde an.
Frau von Pork schlief noch immer: sie hatte sich heute Morgen, als man die Residenz verlassen, mit gewohnter, übertriebener Emsigkeit den Vorbereitungen der Abreise gewidmet, sie hatte darauf geachtet, daß die Kleider unzerknittert in die Koffer gelangten, hatte eigenhändig unter tausend Aengsten das kostbare Meißner Theeservice eingepackt und während der Fahrt unaufhörliche Befürchtungen gehegt, einer der aufgeschnallten Koffer könne heruntergefallen sein, warum sollte man ihr die Ruhe nicht gönnen! Isabella warf einen schlauen Blick auf die Schlummernde, drückte lächelnd einen Kuß auf ihre runzelige, treue Stirn, öffnete die Thüre und huschte rauschend ins Freie. Kaum hatte sie die Wiese betreten und schritt nun, das lange Kleid mit der Rechten hebend, auf dem Kiesweg, als der Maler, von seiner Arbeit aufsehend, sie gewahrte. Obgleich sie sich vorgenommen, keinerlei Gewissensbissen Raum zu geben, erwachten dieselben nun doch, ja, es fuhr ihr ein gelinder Schrecken in die Glieder, als der Maler plötzlich, seinen Pinsel ihr entgegenstreckend, mit lauter Stimme rief: »Halten Sie, bleiben Sie so stehen, welchʼ treffliche Beleuchtung.«
Isabella blieb erschrocken stehen und betrachtete ihre Umgebung, die aus einer Felsenpartie, nebst einigen zartweißen, moosbewachsenen, vom Sonnenlichte wie durchgeistigten Birkenstämmen bestand.
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