Wilkie Collins - Das Geheimnis der Abtei
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Bald darauf trennten wir uns, um für die Mittagstafel Toilette zu machen, und als wir wieder zusammenkamen, war ich angenehm überrascht zu sehen, wie sehr Sinclair sich durch diesen unerwarteten Besuch aus seiner gewöhnlichen Schlaffheit hatte erwecken lassen. Am nächsten Morgen brachte Mr. David gute Nachrichten von Mac Ivor. Letzterer versicherte ganz wohl zu sein und murrte entsetzlich über die beschränkenden Vorschriften des Arztes und die gewissenhafte Befolgung derselben von Seiten der alten Wärterin. Als noch ein Tag verstrichen und alle Befürchtung in Betreff der Verletzung am Kopfe verschwunden war, zeigte Mr. Davis an, dass Mac Ivor seinen Entschluss erklärt habe, am nächsten Tage in unserem Kreise zu erscheinen.
»Sie werden finden, dass er ein viel angenehmerer Gesellschafter ist als ich,« sagte er. »Jedermann hat ihn lieb.«
Capitain Sinclair, welcher selbst entfernte Verwandte in Schottland hatte, begann nach dem Clan und der Familie des jungen Rechtsgelehrten zu fragen.
»Er stammt aus einem sehr alten Geschlechte der Hochlande,« versetzte Mr. Davis, »und alle Glieder seiner Familie sollen ebenso geschickt und so sonderbar sein, wie er selbst ist. Es gibt keinen Mac Ivor der nicht sogenannte »Käfer« im Kopfe hat. Viele seiner Vorfahren waren berühmte Seher, sagt man. Auch seine Mutter gehörte der Familie durch ihre Geburt an, denn sie war Geschwisterkind mit seinem Vater. Er selbst hat deutliche Erinnerungen an gewisse Ereignisse, die sich beim Tode seines Vaters zutrugen und mindestens sehr sonderbar genannt zu werden verdienen. Er war damals sechs Jahre alt und ohne Zweifel ein Knabe von klarem Verstande. Der Vater hatte sich lange Zeit von Hause abwesend befunden, in England, und an einem stillen Sommerabende wurde seine Rückkehr stündlich erwartet. Zu ihrem von Gärten umgebenen Wohnhause führte eine lange Allee. Der Knabe saß im Kreise seiner älteren Geschwister, gespannt auf den fernen Schall von Rädern horchend, um beim ersten Zeichen hinaus zu springen und dem kommenden Vater entgegen zu eilen, als plötzlich die Mutter vom Sitze aufstand und, starr vor sich hin blickend, sagte: »Es ist ein Fremder, der uns naht!« In demselben Augenblicke vernahmen die Kinder auch das lange erwartete Rollen eines sich nahenden Wagens, allein gleichzeitig wurde ihre Aufmerksamkeit in höchst peinlicher Weise auf ihre Mutter gelenkt, welche zu Boden sank, ihren Kopf unter dem Shawle barg und, als der Wagen vor der Pforte hielt, mit leichenblassem Gesichte aufblickend, fortfuhr: » Euer Vater liegt sterbend auf einem englischen Bett, – Fremde wachen bei ihm! Er ist tot!« Mac Ivor versichert, dass alles, was sie gesagt, sich als vollkommen wahr erwiesen habe. Sein Vater war auf der Rückreise plötzlich schwer erkrankt, und der kommende Wagen brachte einen Boten mit dieser traurigen Nachricht. Wie sich später ergab, war der Vater bereits gestorben, ehe der Bote bei der Familie anlangte.«
»Und halten Sie das für wahr?« fragte ich.
»Was soll ich sagen?« war seine Antwort. »Hier handelt es sich um eine Tatsache, die ein Augenzeuge bekundet, welcher jeder Ausschmückung durch erdachte Hinzufügungen unfähig ist. Ich kann der Erzählung meinen Glauben nicht versagen, und danke nur Gott, dass unsere englischen Mütter keine solche Sehergabe besitzen, um ihre Kinder damit auf den Tod zu erschrecken.«
»Hat Ihr Freund diese seltsame Gabe nicht ererbt?« fragte der Capitain Sinclair.
»Nein – ich glaube nicht,« entgegnete Mr. Davis etwas zögernd. »Mindestens habe ich nie gehört, dass er sich eines Blickes in die Zukunft rühmen könne. Aber wenn alles wahr ist, was man sich von ihm erzählt, so hat er zuweilen ein seltsames Erkenntnisvermögen in Bezug auf gegenwärtige Umstände.«
»Ein solches Erkenntnisvermögen ist nichts sehr Ungewöhnliches,« bemerkte ich lächelnd; »ich verstehe in der Tat nicht recht, was Sie meinen.«
»Ja, es ist schwer, das zu erklären, was man selbst nicht recht begreift. Er soll zu Zeiten eine Ahnung von der Nähe oder dem Vorhandensein eines Verbrechens haben. Er selbst spricht nicht gern darüber, denn nur einmal, so lange ich ihn kenne, habe ich aus seinem Munde eine darauf bezügliche Äußerung gehört und auch diese war nur ganz kurz ,als wenn er sich scheute, den Gegenstand zu berühren.«
»Was sagte er?«
»Er sagte, es sei wahr, dass ihn ein sonderbares, peinliches Gefühl an Orten beschleiche, wo eine böse Tat begangen worden, und dass er öfters durch dieses Gefühl auf eine nicht zu beschreibende Weise zu der Entdeckung des Verbrechers hingeführt worden sei.«
»Das ist nichts als eine Art von Wahnsinn,« sagte ich.
»Nie gab es wohl einen klareren und gesunderen Verstand auf Erden, als der seinige ist,« versetzte Mr. Davis mit Wärme.
»Hat er Beispiele von der Ausübung dieser seltsamen Fähigkeit angeführt?« fragte Sinclair.
»Nein. Er sagte, die Fälle seien selten und stets mit großer Unbehaglichkeit und selbst Qual für ihn verbunden. Damit Sie jedoch nicht glauben, dass ich selbst derartige wunderbare Geschichten erfinde, will ich Ihnen ein merkwürdiges Beispiel erzählen, das ich zwar nicht selbst erlebt, aber aus dem Munde seines Schreibers, eines ganz zuverlässigen Menschen, gehört habe, der dabei gegenwärtig war.«
»Oh, erzählen Sie!« riefen alle Stimmen, unter denen sich auch die meiner mit großer Spannung zuhörenden Zöglinge befanden.
»Ich brauche nicht die besonderen Umstände zu erwähnen,« begann er, »wegen deren Mac Ivor von einer verwitweten Dame zu Rat gezogen wurde, deren Schicksal von der Auffindung eines Testamentes abhing, welches ihr verstorbener Gatte errichtet hatte, und das, wie sie behauptete von irgendjemandem gestohlen und beiseite geschafft worden war. Die Witwe machte zwei Zeugen namhaft, welche es in ihrer Gegenwart unterschrieben hatten. Der eine derselben war gestorben; der andere, ein Dienstbote der Familie, bekundete, irgendein Dokument unterzeichnet zu haben, aber konnte nicht mehr mit Bestimmtheit angeben, was es betroffen habe, und glaubte, es sei nur eine Vollmacht für einen Anwalt gewesen. Mac Ivor hegte vom ersten Augenblicke an Misstrauen gegen den Neffen der Dame, welcher zwar ein reicher Mann, aber dennoch entschlossen war, sein Recht als nächster Intestaterbe geltend zu machen, obgleich die Witwe seines Oheims dadurch an den Bettelstab kommen musste. Er stieß jedoch bei Mac Ivor auf einen gefährlichen Gegner. Nachdem Letzterer in Erfahrung gebracht hatte, dass der noch lebende Zeuge von dem Neffen in Dienst genommen worden war, bestand er darauf, den Mann zu sehen und zu sprechen. Der Neffe machte viele Ausreden, schützte vor, derselbe sei abwesend, und später hieß es, er sei krank, allein Mac Ivor gab nicht nach; und nachdem er seine Absicht erklärt hatte, den Arzt zu sprechen, welcher den Mann behandelte, willigte der Neffe endlich ein, dass Mac Ivor ihn am folgenden Tage zu einer bestimmten Stunde in seinem Schlafzimmer besuchen dürfe. Bis dahin hatte Mac Ivor von dem beabsichtigten Besuche keinen anderen Erfolg erwartet, als den, durch ein scharfes Verhör des Mannes einiges Licht über das geheimnisvolle Verschwinden des Testamentes zu verbreiten. Der Schreiber, welcher mir die Geschichte erzählte, begleitete ihn nach dem Hause des Neffen und sagte, dass Mac Ivor sich auf dem Wege dahin ganz wie gewöhnlich mit ihm unterhalten, aber bei dem Eintritt in das Haus plötzlich starr um sich geblickt und die Farbe gewechselt habe. Ein Diener schritt ihm die Treppe hinauf voran, während der Schreiber hinter Mac Ivor folgte und deutlich sah dass sein Prinzipal mehrere Male wankte und sich halten musste. Als sie die Tür des Schlafzimmers erreichten, fasste er den Arm des Schreibers und zitterte sichtlich.«
»Aber,« erzählte Letzterer, »»als wir über die Schwelle traten, ließ mein Prinzipal meinen Arm los, stieß mich fast von sich und schritt geraden Wegs auf das Bett zu. Das Gemach war verdunkelt worden, so dass ich anfangs kaum den von den Kissen und Decken umhüllten angeblich Kranken zu erkennen vermochte. Mr. Mac Ivor riss die Decken fort und rief: »Hier ist keine Krankheit! Setzet Euch aufrecht!« Nie vorher hatte ich ihn mit einer so furchtbaren Stimme sprechen hören, wie in diesem Augenblicke. Der Mann richtete sich erschrocken auf, und sein Herr, welcher hinter den Bettvorhängen versteckt gewesen war, trat gleichfalls hervor und stand nun auf der anderen Seite des Bettes gegenüber. »Fragen Sie,« sagte er« »der Mann wird antworten. Er räumt ein, eine Unterschrift vollzogen zu haben, aber —.« Ohne seine Worte zu beachten, unterbrach ihn Mac Ivor. »Heraus damit!« rief er mit derselben Stimme wie vorher. »Heraus mit dem Testamente! Es liegt unter Eurem Kopfkissen!« Mit diesen Worten griff er unter das Bett und zog ein Dokument hervor. Der angebliche Kranke zitterte am ganzen Körper und war unfähig, es zu verhindern. Sein Herr tat einen Griff danach über das Bett und sagte einige sehr heftige Worte, aber Mac Ivor schob das Papier in seine Tasche und sagte nur: »Wenn ich nicht von Ihnen höre, so werden Sie von mir hören,« und verließ das Haus, während ich ihm wie ein Träumender folgte. Nie erwähnte er später des Vorfalls gegen mich, aber das Testament war gefunden, und die Dame erlangte ihr Recht.««
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