Wilkie Collins - Das Geheimnis der Abtei

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»Lässt sie niemand außer ihrer Familie zu sich?«

»Nein, selbst keinen Arzt. Seit Jahren ist sie in keiner Kirche gewesen und hat weder mit mir noch mit meinem Gatten gesprochen. Der arme Sinclair unterwirft sich ihrem Willen in jeder Beziehung. Sieben Jahre sind sie jetzt verheiratet, aber er hat gewiss noch keine sieben glücklichen Monate mit ihr verlebt.«

»Wie erträgt er seine Lage?«

»Wie Sie sehen. Er wälzt sich im Lehnsessel umher, oder geht spazieren und reitet mit den Kindern aus, raucht und liest in den zahllosen von London kommenden Zeitungen, und vertreibt sich auf diese Weise die Zeit.

»Hat er keine andere Gesellschaft?«

»Wenig oder keine. Alle Einladungen lehnt er regelmäßig ab, und in die Verwaltungsangelegenheiten der Grafschaft mischt er sich nie. Mit meinem Gatten kommt er dann und wann zusammen, und die Ärzte, welche früher seine Frau behandelten, besuchen ihn von Zeit zu Zeit, hören wie es ihr geht, und empfangen ihre Gebühren für die Versicherung, dass ihr Zustand hoffnungslos sei. Aber er ist ein sehr zärtlicher Vater, ein gütiger Dienstherr, und stets bereit, den Armen zu helfen. Nie versagt er seinen Beistand, wenn mein Gatte seine Börse für irgendeinen Hilfsbedürftigen in Anspruch nimmt. Er hält ihn für einen sehr guten Menschen, aber hegt die Überzeugung, dass Sinclairs Herz mit seiner jungen Gattin in Indien bestattet worden sei, und dass er für Lady Deighton nie etwas anderes als Dankbarkeit und verwandtschaftliche Freundschaft empfunden habe. Überdies,« fügte die Frau lächelnd hinzu, »glaube ich, dass seine Dankbarkeit gegen Sie unbegrenzt sein wird, wenn Sie das Leben in der Abtei ertragen können, was bisher noch keine andere Dame in Ihrer Stellung vermocht hat.«

»Heute abend soll ich Lady Deighton vorgestellt werden,« bemerkte ich; »wir werden Tee bei ihr trinken.«

»Ja, ich weiß, das geschieht zuweilen,« erwiderte Mrs. Dalton, »allein Ihre Vorgängerinnen beklagten sich immer sehr über diese Sitte. Wie sie mir erzählten, schlichen sich die Kinder nach dem Tee stets so bald als möglich davon, und Capitain Sinclair pflegte wenig oder nichts zu sprechen, so dass sie die sonderbaren Reden der Lady so lange anhören mussten, bis die Schlafzeit ihrer Zöglinge ihnen gestattete, sich zu entfernen.«

»Sonderbare Reden?« wiederholte ich.

»Ja, ihr Gespräch ist zuweilen sehr sonderbar,« versetzte die Frau. »So selten ich sie überhaupt gesehen habe, weiß ich doch, dass sie auch schon früher, ehe ihr einsiedlerisches Leben begann, sehr seltsame Reden führen konnte. Ihr Vater war, wie man sagt, ein erklärter Atheist, dem alle religiösen Grundsätze und Empfindungen fehlten. Er lebte nur von seiner Geschicklichkeit im Spiel und von Wetten bei Pferderennen. Der Elende verkaufte förmlich seine schöne Tochter an Sir Thomas Deighton, denn das ihr kontraktlich ausgesetzte Wittum war ungeheuer. Ohne Zweifel hoffte er den alten gichtbrüchigen Baronet lange zu überleben, allein diese Erwartung erfüllte sich nicht, denn kurze Zeit nach der Hochzeit setzte ein Schlagfluss seinem Leben ein Ende.«

»Aber von welcher Art sind denn die sonderbaren Reden?«

»Ihr Vater war abgesehen von seiner Ungläubigkeit ein wütender Republikaner und hatte lange Zeit in Frankreich gelebt, wo er vertraute Freunde unter den Führern der Revolution besessen haben soll. Drei wichtige Jahre in dem Leben seiner Tochter, die vom zwölften bis zum fünfzehnten,« hatte sie unter allen Schrecken der Revolution während der Zeit von 1790 bis 1793 in Paris verlebt. Sie ist deshalb mit der Guillotine ebenso bekannt wie mit ihrer Schere und spricht ganz ruhig und sogar billigend von Menschen und Dingen, welche für uns Gegenstände des Abscheus sind.«

»Ach, ich wünschte, mein erster Abend bei ihr wäre vorüber!« rief ich unwillkürlich.

Der erste Abend bei Lady Deighton ging besser vorüber, als ich erwartet hatte. Ihre Zimmer lagen in der Nähe der alten Kapelle, teilweise über der großen Klosterküche, und die Sage erzählte, dass sie ehemals von den herrschenden Äbten der Brüderschaft bewohnt worden seien. Es gab in diesem Teile des Gebäudes viele kleine, düstere Räume und zahllose verworrene Gänge und geheime Treppen. Sie hatte zwei Gemächer inne, ein Wohnzimmer und ein Schlafgemach, deren Fenster nach einem inneren Hofe der Abtei gingen. Ein etwas labyrinthischer Verbindungsweg brachte uns endlich zu einer großen, schweren Tür, welche sich auf eine Art von Vorsaal öffnete, und dann schritt der mich führende Capitain durch eine zweite große Tür voran und trat mit mir in ein düsteres Gemach von mittelmäßiger Größe. Im nächsten Augenblicke stand ich vor Lady Deighton.

Sie war eine große, stark gebaute Frau, aber von schönem Wuchse, und hatte edle Züge, ein römisches Profil und große, tiefblaue Augen, die aus dem Kopfe gleichsam herauszuspringen schienen, was an der außerordentlichen Magerkeit ihres Gesichtes lag. Die Farbe desselben war ehedem wahrscheinlich von zarter Weiße und blühend gewesen, aber jetzt war an Stelle derselben eine gelbliche Blässe getreten, während auf den Backenknochen ein brennend roter Fleck ruhte. Ihre niedrige Stirn trug zahlreiche Falten, welche sich bis an die Schläfe erstreckten, und die Augenbrauen und Wimpern waren von fast rötlicher Farbe. Eine wallende Fülle lichten Haares, stark mit Grau gemischt, aber immer so nachlässig geordnet, dass es fast unordentlich aussah, war von einem schwarzen Spitzenschleier bedeckt, welcher unter dem Kinn von einem losen Knoten zusammengehalten wurde, und ihre schmalen, purpurroten Lippen ließen die weißen, etwas vorspringenden Oberzähne, namentlich beim Sprechen, teilweise unbedeckt. Ihre Kleidung bestand aus einem Hausrocke von schwerer Seide, welcher vorn offen war; ein kostbarer Shawl ruhte auf ihren Schultern, und zwei oder drei andere lagen auf dem Sofa, auf dem sie saß. Nie habe ich sie in einer anderen Kleidung gesehen. Vor ihr stand ein Tisch mit einigen Büchern und Schreibmaterialien. Das übrige Mobiliar des Zimmers war alt und schwerfällig. Alles sah darin aus, als wenn die Bewohnerin keinen Wert auf geschmackvolle Ordnung legte. So war es auch. Die Freuden des Auges sowie jede andere Freude, hatten das unglückliche Weib für immer verlassen.

»Sie stand auf und empfing mich sehr artig. Im Lauf diesses Abende sprach sie nur wenig, aber ihr Benehmen war das einer feingebildeten Frau, und in ihren Reden zeigte sich nichts Auffallendes. Später jedoch, nachdem sie bekannter mit mir geworden war, bemerkte ich eine zunehmende Veränderung in Ton und Sprache. Sie stellte häufig paradoxe Behauptungen auf, welche alle Moralität über den Haufen warfen. Oft war es schwer zu erkennen, ob sie im Ernste spreche; aber häufig zeigte sich auch unverkennbar eine bittere Aufrichtigkeit in dem heftigen Tone, mit dem sie die Meinung zu verteidigen suchte, dass es eigentlich kein wirkliches Vergehen gebe. Die Spuren der entsetzlichen Erfahrungen, welche sie in Frankreich unter der Herrschaft der Guillotine gemacht hatte, zeigten sich in ihren Definitionen vom Totschlag und Mord. Ihrer Theorie zufolge konnten »die Umstände« einen so mildernden Schatten über das schreiendste Verbrechen werfen, dass der ganze Charakter desselben dadurch verändert wurde.

Sinclair schien stets auf unangenehme Weise berührt zu werden, wenn sie so wilde Behauptungen vorbrachte. Die Töchter schlichen regelmäßig davon, sobald der Tee vorüber war; und wenn die Unterhaltung eine dem Vater unangenehme Wendung nahm, pflegte er aufzustehen, im Zimmer hin und her zu gehen und der Tür näher und näher zu kommen, bis er endlich auch die Gesellschaft verließ. Ich mochte nicht gegen die Dame streiten, allein da ich mich nicht wohl vor der Schlafzeit der Kinder entfernen konnte, so war es unmöglich, Erwiderungen und selbst Einwendungen zu vermeiden. Diese ertrug sie mit großer Ruhe, meistens mit einer Miene, welche das Bewusstsein von Superiorität und Mitleid für meine hartnäckigen Vorurteile ausdrückte; allein es gab auch Momente, wenngleich selten, in denen sie von meinen Worten ergriffen und erweicht zu werden schien, seltsamerweise namentlich dann, wenn ich eine Stelle aus dem heiligen Buche zitierte, das sie scheinbar verachtete. Nicht ohne Staunen nahm ich wahr, wie tief sie zei solchen Gelegenheiten berührt wurde, und einige Augenblicke pflegte sich dann in ihren Zügen ein Ausdruck von so peinlicher Hilflosigkeit zu zeigen, dass ich sie kaum ansehen konnte. Es war jedoch nichts als Mitleid und eine gewisse Neugierde, was ich empfand, denn angezogen von ihr fühlte ich mich niemals.

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