Wilhelm Walloth - Aus der Praxis

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Kahler, der in ein trübes Sinnen verfallen war, bestätigte die Neigung des Mädchens und fügte ein paar flüchtige Bemerkungen über ihre Familie bei, mit sich selbst uneins, was er nun beginnen solle, ob er seine Lüge aufrecht erhalten oder dem unerfahrenen Jüngling die offene Wahrheit, die ganze unselige Erbschaftsangelegenheit auseinandersetzen solle. Endlich stand er, nach seinem Hut greifend, auf.

»Ich muss gehen,« sagte er ein wenig rau, »werde aber heute Mittag gegen 3 Uhr wieder erscheinen; wenn es Ihnen recht ist, begleitet mich Fräulein Pöhn.«

Der Maler, den die Aussicht, jene unbekannte Wohltäterin von Angesicht zu Angesicht wiederzusehen in eine momentane Aufregung versetzte, konnte kein Wort hervorbringen. Er begnügte sich, tief aufatmend mit dem Haupte zu nicken.

»Also bis heute Mittag,« sagte der Arzt, als er bereits die Türe geöffnet, »denken Sie über das Glück nach, das Ihnen bevorsteht, mein Lieber! Die Dame scheint ganz ernstliche Absichten zu haben – denken Sie an Ihre der Pflege bedürftige Gesundheit und vor allem an Ihr unvollendetes Bild —«

Der Arzt hatte diese Worte sehr hastig, fast unverständlich hervorgestoßen, die letzte Mahnung hatte er durch den Spalt der fast geschlossenen Türe in das Zimmer hereingesprochen und war dann rasch von dannen geeilt. Er kennt sie also bereits, er liebt sie, klang es in seinem Innern nach, während er die finstre Galerie entlang schritt, aber wie töricht, wie charakterlos, einem Sterbenden diese Liebe verübeln zu wollen Gewaltsam lenkte er seine Gedanken von diesem ihm peinlichen Gegenstande ab, bemerkte jedoch mit Verwunderung, wie ihm alle Gegenstände, an welchen er vorübergehen musste, in ein flimmernd rotes Licht getaucht erschienen und seine Augen, oder seine Sinne sich in einer Verfassung befanden, die ihn mehrmals den Weg verfehlen ließ, der ihm doch genau bekannt war. Das Nervensystem des jungen Menschen ist überreizt, dachte er dann, er liebt sie wohl kaum, das ist eine krankhafte, sentimentale Anwandlung. Als er dann auf die Straße vor den noch immer haltenden Wagen trat, durch dessen herabgelassenes Fenster Fräulein Emma Pöhn, ihre Erwartung verbergend, herausschaute, konnte er anfangs vor Herzklopfen kaum reden, bezwang sich jedoch und berichtete, durch welche Lüge er sich aus der Affäre gezogen. Emma sah ein, dass diese Lüge eine Notwendigkeit gewesen und wusste, obgleich sie sich eines unbehaglichen Gefühls nicht zu erwehren vermochte, nichts dagegen einzuwenden.

»Natürlich muss diese kleine Täuschung aufrechterhalten werden,« mahnte Kahler, als beide Platz genommen und der Wagen abfuhr. Emma schwieg, auch Kahler war einsilbig und prüfte zuweilen das ernste, schöne Antlitz des nachdenklichen Weibes.

»Wie lange mag er noch leben?« frug sie nach längerem Stillschweigen.

»Einen Monat vielleicht,« sagte Kahler achselzuckend, während er die heftigsten Gewissensbisse darüber empfand, dass er es nicht über sich gewinnen konnte, dem Mädchen von jenem Zusammentreffen im Ausstellungssaale und der Dankbarkeit des armen Malers zu erzählen, ebenso wie ihn bei der Aussicht, sein Patient überlebe den kommenden Monat nicht mehr, ein ihm unerklärliches Gefühl anwandelte, ein Gefühl, das er, da er den jungen Mann doch wahrhaft liebte, verdammen musste, das er mit Gewalt verscheuchen wollte und das doch immer wiederkehrte.

* * *

Indessen lag der junge Maler auf seinem Bette, von einem Glücksrausch übermannt, der sein Herz beängstigte und ihn manchmal an seiner gesunden Vernunft zweifeln ließ. Wie? Träumst du nicht dies alles? murmelte er manchmal vor sich hin.

Oder hat dir die Nachwirkung des Arseniks die Verstandeskräfte verwirrt und du hältst Eingebildetes für Wirkliches. Aber hier stand noch der Stuhl, auf dem Kahler gesessen, noch klang ihm das Wort des Arztes im Ohr nach, und da lag sie ja noch, die Photographie, da blickten sie ihn an, die düster schönen, geheimnisvoll-unheimlichen Gesichtszüge.

O diese Gesichtszüge, wie sie ihn während seines Krankseins verfolgt, wie sie auch in der tiefsten Betäubung aller seiner Sinne nicht von ihm wichen, und wie sie ihn anlächelten, wenn diese Betäubung einem leichteren Traum Platz machte. Aus dem einen edlen Charakterzug dieses Weibes konstruierte sich der Schwärmer den ganzen Charakter, und noch jetzt rührte ihn ihr mitleidiger Blick, der damals auf ihm geruht, zu Tränen. In seiner jugendlichen Phantasie stand sie wie ein überirdisches Wesen; seine Seelenleiden, Hunger und Schwäche hatten seine Liebe ins Krankhafte gesteigert.

Also ein solches Glück stand wie ein Wunder plötzlich vor ihm und wollte ihn ans Herz drücken und sagte: fasse zu, hier bin ich, du hast lang genug gelitten, ich will dich erlösen. Und sollte er zugreifen? War es nicht beschämend für ihn, ohne Kampf den Sieg zu genießen? Er sah durch sein Dachfenster über die wirr durcheinander geworfenen Dächer, überall rauchende Schornsteine, trübe Fenster, moosbewachsene Ziegel, Windeln und Geschirr, eine öde, traurige Welt gähnte ihn an, so weit er blickte, dürre, erdrückende Prosa! Und aus diesem engen Gefängnis konnte er sich befreien, nur eines Wortes bedurfte es, so führte man ihn in ein reiches, glänzendes Leben! Ach! Und er gesundete vielleicht noch! War es ihm doch, als durchströme ihn jetzt schon ein nie gekanntes Jugendfeuer; die Aussicht, sein Bild zu vollenden, an der Seite eines geliebten Weibes zu wandeln, sie war schon hinreichend, ihn mit jenem stürmischen Lebensmut zu erfüllen, der den phantasievollen Künstler zuweilen mit göttlicher Kraft überfällt. Und wenn sie ihn wirklich liebte – ihr Wort, ihre Miene mussten es ja beweisen —! Und warum sollte sie ihn nicht lieben? Sprach doch schon damals, als er in der Bildergalerie auf einen Stuhl gesunken war, eine so tiefe Teilnahme aus ihrem Auge, konnte sich diese Teilnahme nicht mit der Zeit vergeistigt, verstärkt haben? Und wenn sie ein seltsam geartetes Weib war, einen außergewöhnlichen Charakter besaß – was schadete dies! Sollte das ihn abhalten, sie zu lieben? Konnten Untiefen und Absonderlichkeiten des Charakters einer Ehe nicht erst einen außergewöhnlichen Reiz verleihen? War er doch auch kein Philister, der immer nur die breite Heerstraße des Gewöhnlichen liebt, suchte er doch mit Vorliebe das Abenteuerliche.

Und dann sein nagender Ehrgeiz – wenn das Bild vollendet vor ihm prangte, allen Meistern mit seiner leuchtenden Farbenpracht zurufend: Seht, das hat ein seither Unbekannter, Verachteter geschaffen! Paul stand auf und schritt, wie im Fieber an allen Gliedern zitternd, in dem engen Gemach auf und nieder, zuweilen halblaute Worte vor sich hinmurmelnd.

Bald verwarf er den ganzen Plan als seiner unwürdig, bald war er freudeberauscht mit allem einverstanden, selig in dem Gedanken, ihr Sklave zu sein, und als jetzt Luise, die Tochter seiner Hauswirtin mit dem Mittagessen ins Zimmer trat, sah er sie so geistesabwesend an, dass das Mädchen ganz erschrocken frug, ob sie den Arzt rufen solle? Es scheine, als ob ihm unwohl sei.

Paul, der dem Mädchen, da es ihn während seiner Krankheit treu gepflegt, Dank schuldete, griff ihm lächelnd unter das Kinn und bemerkte in seinem trunkenen Zustande nicht, wie dem Kinde fast die Tränen in die Augen traten, er richtete, ohne recht zu wissen, was er sagte, stammelnd ein paar freundliche Worte an sie und war in seinem Taumel nahe daran, ihr die Ereignisse, die ihm bevorstanden, mitzuteilen. Er frug einmal, was sie wohl dazu sagen werde, wenn er Hochzeit halte, und gab dann in so humoristisch-verwirrter Weise ein paar Andeutungen, betreffs zu erwartenden Reichtums, dass Luise ihm wirklich mehrmals mit unverhohlener Angst in die Augen sah. Endlich bemerkte er selbst, dass man ihn heute nicht verstehen werde und er lenkte lachend von diesem Thema ab.

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