Frau Sjöblom? Die fröhliche Schreinersfrau – falls sie es war? Vielleicht konnte man die mit Bitten bestürmen, Mattsson hatte doch wohl nicht alles zu entscheiden! Melcher biß die Zähne aufeinander. Er mußte es bei Frau Sjöblom versuchen. Nicht, weil er glaubte, es würde etwas helfen, aber er durfte nichts unversucht lassen. Später, wenn alle Hoffnung umsonst war, dann war noch immer Zeit, auf diesen Worten herumzukauen: »Sie sind zu spät dran, Herr Melcherson!«
»Kommt, Jungen«, flüsterte er, »wir gehen mit zu Frau Sjöblom.«
Bis ihr Moos angesetzt habt – so lange sollten sie auf der Bank sitzen bleiben, hatte Herr Melcher gesagt. Das gefiel Tjorven nicht. Pelle auch nicht. Ein Eis ist so schnell alle, und Moos wächst langsam. Jetzt hatten sie hier so lange gesessen, Hunger hatten sie bekommen, und Pelle war so aufgeregt, daß er nicht stillsitzen konnte. Weshalb kam Papa gar nicht zurück? Er hatte ein Gefühl, als hätte er Ameisen im Leib, und Bauchweh bekam er auch.
Tjorven hatte schlechte Laune. Und dabei war Norrtälje so unterhaltsam, sie war mehrmals mit den Eltern hier gewesen, sie wußte, wieviel Aufregendes und Interessantes es hier zu sehen gab. Und dann sollte man hier wie angenagelt auf einer Bank sitzen und außerdem noch Hunger haben.
»Soll das heißen, daß wir hier sitzen bleiben sollen, bis wir vor Hunger gestorben sind?« fragte sie anklagend.
Da fiel Pelle etwas ein, was ihn ein wenig aufmunterte. Er hatte ja doch Geld! Er hatte drei Kronen in der Hosentasche.
»Ich glaube, ich kaufe für jeden von uns noch ein Eis«, sagte er. Das tat er. Er lief zur Eisbude und kaufte zwei Eis. Hinterher waren nur noch zwei Kronen in der Hosentasche.
Aber das Eis war schnell alle, die Zeit verging, und keiner kam, und Pelle hatte Ameisen im Leib.
»Ich glaube, ich kaufe für jeden von uns noch ein Eis«, sagte er. Das tat er. Er lief wieder zur Eisbude. Hinterher war nur noch eine Krone in der Hosentasche.
Und die Zeit verging, keiner kam, das Eis war längst alle.
»Kaufst du uns noch ein Eis?« schlug Tjorven da vor.
Pelle schüttelte den Kopf.
»Nein, man soll nicht alles ausgeben, was man hat. Etwas muß man übrigbehalten für unvorhergesehene Ausgaben.«
So hatte er Malin häufig zu Papa sagen hören. Was »unvorhergesehene Ausgaben« eigentlich waren, das hatte er nie so recht herausbekommen, er wußte nur, daß man nicht alles auf einmal ausgeben durfte. Tjorven seufzte. Sie wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. Und Pelle wurde immer aufgeregter. Wenn nun Papa diesen schrecklichen Mattsson nicht gefunden hatte! Wer weiß, vielleicht war überhaupt alles ganz anders geworden, vielleicht saß Mattsson bei Herrn Karlberg zu Hause und verkaufte das Schreinerhaus in Windeseile, anstatt auf den Markt zu gehen und Rhabarber zu besorgen und eiligst in sein Büro zurückzukehren und an Papa zu verkaufen. Und da sollte man hier herumsitzen und nichts erfahren! Nur warten und warten und Bauchweh kriegen. Oh, wie dieser Karlberg ihm mißfiel. Und Mattsson ebenfalls! Daß Frau Sjöblom sich so einen nahm, der sich um ihre Geschäfte kümmerte! Weswegen tat sie es nicht selber?
Frau Sjöblom? Die wohnte hier in Norrtälje, ist ja wahr! Nicht zu fassen, daß sie das Schreinerhaus verkaufen wollte, sie war wohl nicht recht gescheit! Man hätte Lust, sie zu fragen … ja, alles mögliche! Alles mögliche, tatsächlich!
»Kennst du Frau Sjöblom?« fragte er Tjorven.
»Klar kenn ich sie. Ich kenn doch alle Menschen.«
»Weißt du, wo sie wohnt?«
»Ja«, sagte Tjorven. »Sie wohnt in einem gelben Haus, und nicht weit davon ist ein Bonbonladen und gleich daneben ein Spielzeuggeschäft.« Pelle saß stumm da und überlegte. Und er kriegte immer mehr Bauchschmerzen. Schließlich stand er heftig auf.
»Komm, Tjorven, wir gehen los und suchen Frau Sjöblom. Ich hätte ein bißchen mit ihr zu bereden.«
Tjorven sprang froh überrascht auf.
»Aber was sagt dann Herr Melcher?«
Das fragte Pelle sich auch, aber im Augenblick wollte er nicht daran denken. Er wollte zu Frau Sjöblom. Alte Damen mochten ihn für gewöhnlich gern, es wäre sicher nichts dabei, wenn man sie fragte … Oje, er wußte gar nicht recht, was er sie fragen wollte! Er wußte nur, daß er unmöglich noch länger stillsitzen konnte, ohne etwas zu unternehmen.
Tjorven war mit den Eltern zusammen mehrmals bei Frau Sjöblom gewesen. Trotzdem konnte sie jetzt das gelbe Haus nicht finden. Sie fand aber einen Polizisten, und den fragte sie.
»Wo ist ein Bonbonladen, der gleich neben einem Spielzeugladen liegt?«
»Mußt du alles auf einem Fleck haben?« fragte der Polizist und lachte. Dann aber dachte er nach, und nun wußte er, was sie meinte, und konnte ihnen sagen, wie sie gehen mußten.
Und sie trabten weiter durch schmale Straßen und an kleinen, hübschen Häusern entlang und fanden schließlich einen Spielzeugladen, der gleich neben einem Bonbonladen lag. Tjorven schaute sich um. Und dann zeigte sie auf ein Haus.
»Da! In dem gelben Haus da wohnt Frau Sjöblom!«
Es war ein niedriges Haus mit einem Oberstock, einem kleinen Garten und einer Tür zur Straße.
»Du mußt klingeln«, sagte Pelle. Er selber traute sich nicht. Tjorven setzte den Finger auf den Klingelknopf und ließ ihn lange dort. Und dann warteten sie. Lange, lange warteten sie, aber es kam niemand. »Sie ist nicht zu Hause«, sagte Pelle, und er wußte selber nicht, ob er enttäuscht war oder nicht. Eigentlich wäre es doch schön, wenn man sich davonmachen könnte, denn es war schwer, mit fremden Menschen zu reden. Aber trotzdem …
»Weshalb hat sie dann ihr Radio an?« sagte Tjorven und legte das Ohr an die Tür. »Hörst du nicht, was sie da spielen? ›Am Samstag abend war ein Leben‹.«
Sie klingelte noch einmal, und dann hämmerte sie kräftig mit der Faust gegen die Tür. Aber trotzdem kam niemand, um aufzumachen. »Sie muß zu Hause sein«, sagte Tjorven. »Komm, wir gehen mal hinters Haus.« Und sie gingen um das Haus herum. Dort stand eine Leiter, die zu einem Fenster im oberen Stock führte. Das Fenster war offen, und dort drinnen spielte ein Radio mit voller Lautstärke. Jetzt konnte man ganz deutlich hören, was für ein Leben am Samstag abend gewesen war. »Tante Sjöblom!« rief Tjorven.
Aber nichts geschah.
»Wir klettern rauf und sehen nach«, sagte Tjorven.
Da kriegte Pelle es mit der Angst. So etwas konnte man doch nicht tun? So ohne weiteres da hinaufklettern, das war doch Wahnsinn! Aber Tjorven war unerbittlich. Sie trieb ihn zur Leiter hin, und auf zitternden Beinen begann er nach oben zu steigen.
Er bereute es, noch bevor er halbwegs oben war, und wollte umkehren. Aber hinter sich auf der Leiter hatte er Tjorven, und die ließ keinen vorbei.
»Beeil dich«, sagte sie und drängte ihn erbarmungslos nach oben. Erschrocken kletterte er weiter – was um Himmels willen sollte er nur sagen, wenn jemand dort drinnen war?
Selbstverständlich war jemand dort drinnen. Sie saß in einem Sessel mit dem Rücken zu ihm, und als er, von Schrecken gelähmt, lange Zeit ihren Hinterkopf angestarrt hatte, hüstelte er. Zuerst leise und dann ziemlich laut. Da schrie sie auf, die da im Sessel saß, und drehte sich um, und er sah, daß es Frau Sjöblom war, ja, genau so hatte er sie sich vorgestellt. Sie war mächtig alt und runzelig und hatte graue Haare und freundliche Augen und eine kleine, lustige Nase. Aber sie starrte ihn an, als sähe sie einen Geist.
»Ich bin nicht so gefährlich, wie ich aussehe«, versicherte Pelle mit bebender Stimme.
Da lachte Frau Sjöblom.
»Ach, wirklich nicht? Bist du nicht so furchtbar gefährlich, wie du aussiehst?«
»Nein, gar nicht«, sagte Tjorven und hob den Kopf über das Fenstersims. »Guten Tag, Tante Sjöblom!«
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