»Du hättest wohl auch gern einen kleinen Hund, könnte ich mir vorstellen?«
Tjorven hatte Lotta so böse ins Gesicht geschaut wie keines von den anderen. Jetzt aber lächelte sie, wahrhaftig.
»Ich hab schon einen kleinen Hund«, sagte sie. »Möchtest du ihn sehen?«
Lotta schüttelte den Kopf.
»Nein, hol nicht noch mehr Hunde her. Mulli wird nur böse und geht auf ihn los.«
»Dann ist er auch ein Bongalo«, sagte Tjorven. »Aber ich wette, daß er auf meinen Hund nicht losgeht.«
»Das denkst du so«, sagte Lotta. »Du kennst Mulli nicht.«
»Wollen wir wetten?« fragte Tjorven. »Um eine Krone?« Und sie hielt das Geldstück hoch, das sie von Lottas Vater bekommen hatte. »Meinetwegen«, sagte Lotta, »aber du bist selber schuld!«
Sie merkte, wie ein erwartungsvolles Gemurmel von allen Kindern kam. Na ja, wenn sie so versessen auf eine Hunderauferei waren, dann wollte sie ihnen gleich eine vorführen! Mulli war zwar klein, aber so giftig, daß er leicht überkochte, und er ließ sich ohne Besinnen mit Hunden ein, die viel größer waren als er selber. Und mit kleineren natürlich auch. Daheim in Norrtälje war er der Schrecken aller Damen. »Er bildet sich offenbar ein, er wäre ein Bluthund«, hatte erst gestern eine gesagt, als Mulli sich auf deren großen Boxer gestürzt hatte. Also nur los, wollten diese Bauernkinder eine Hunderauferei sehen, dann sollten sie sie haben! Mulli schaffte es immer.
»Halt deinen Welpen fest«, sagte Lotta zu Pelle, »ich setz Mulli jetzt runter.«
Und das tat sie. Sie setzte Mulli auf die Erde. Nun hieß es nur, auf diesen Hund zu warten, auf den er losgehen sollte.
Bootsmann lag im Schatten der Fliederhecke und schlief, aber er erhob sich bereitwillig, als Tjorven ihn weckte. Er richtete sich in all seiner Mächtigkeit auf, und in all seiner Mächtigkeit kam er ums Haus herum. Und dort traf er Mulli.
Da hörte man ein Keuchen und einen Schrei, das kam von Mullis Frauchen. Mulli seinerseits blieb vor Entsetzen zwei Sekunden stehen und sah dem Wunder entgegen, das da näher kam. Aber dann stieß er ein Gejaul aus und schoß wie ein weißer Dampfstrahl zum Gartentor hinaus.
Bootsmann guckte ihm erstaunt nach. Weshalb hatte der es so eilig? Er hätte ihn doch wenigstens erst mal begrüßen können. Bootsmann ging als der brave Hund, der er war, zu Lotta, um sie zu begrüßen, und da flitzte Lotta mit einem Geheul hinter den Mehlbeerbaum und suchte hier Schutz.
»Nimm deinen Hund weg«, rief sie wie wild, »nimm ihn weg!«
»Warum brüllst du so?« fragte Tjorven. »Bootsmann geht auf keinen los, er ist doch kein Bongalo.«
Johann lag bäuchlings im Gras und wimmerte vor Lachen. Es hätte ebensogut ein Weinen sein können, aber jetzt lachte er, und er konnte nicht wieder aufhören.
»Oh, Tjorven«, wimmerte er, »oh, Tjorven!«
Tjorven warf ihm einen erstaunten Blick zu, aber dann drehte sie sich zu Lotta um.
»Ich hab gewonnen! Her mit der Krone!«
Lotta war wieder zum Vorschein gekommen, als sie hörte, daß Bootsmann nicht gefährlich sei. Aber jetzt war sie verlegen und böse und wollte nicht mehr mitmachen. Maulend kramte sie in ihrer Tasche nach einem Portemonnaie, und Tjorven bekam ihre Krone.
»Danke«, sagte Tjorven. Sie hielt den Kopf schief und sah Lotta an. »So eine wie du, die sollte nicht wetten«, sagte sie. »Das müssen solche sein wie ich und Herr Melcher.«
Lotta schaute ungeduldig auf die Tür des Schreinerhauses. Kam ihr Vater nicht endlich, damit sie gehen konnten? Hier wollte sie nicht mehr bleiben.
»Rat mal, was Herr Melcher mal gewettet hat«, sagte Tjorven. »Aber es ist schon viele Jahre her.«
Lotta interessierte es nicht, was Herr Melcher vor vielen Jahren getan hatte, aber das war Tjorven egal.
»Er hat mit einem anderen Herrn gewettet, daß er vierzehn Tage nichts essen wollte und vierzehn Nächte nicht schlafen. Wie findest du das?«
»Albern finde ich es«, sagte Lotta. »Das konnte er ja gar nicht.«
»Klar konnte er das«, sagte Tjorven triumphierend. »Er hat am Tag geschlafen und nachts gegessen. Was sagst du nun?«
»Oh, Tjorven«, stöhnte Johann.
Dann aber hörte er auf zu lachen, denn jetzt trat Direktor Karlberg in Begleitung von Mattsson auf die Treppe hinaus, und Johann hörte, was er da Entsetzliches sagte. Sie hörten es alle.
»Das Haus ist wertlos, aber ich werde wohl trotzdem zuschlagen. Dieses Grundstück ist kein schlechtes Geschäft, glaube ich.«
Unten an der Treppe stolperte er über Tjorven. Er hätte sie beinahe umgerannt, und das ärgerte ihn. Aber Tjorven ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Direktor Karlberg, weißt du was«, sagte sie, »ich kann einen komischen Vers. Möchtest du den hören?«
Und bevor Herr Karlberg noch antworten konnte, fing sie an:
»Adam und Eva, im Paradies daheim,
schlachteten ihr dickes, kleines Schwein.
Den Speck, den fetten, verkauften sie,
behielten für sich den Rest vom Vieh. Das war doch auch kein schlechtes Geschäft, was?«
Direktor Karlberg machte ein erstauntes Gesicht.
»Das habe ich nicht verstanden«, sagte er. Aber er steckte die Hand in die Tasche und holte eine Krone heraus. Es war nett von der Kleinen, ihm Verse aufzusagen, außerdem hatte er sie eben getreten. Er hatte es jedoch eilig, und so drückte er ihr eine Krone in die Hand, um sich auf diese Weise von ihr loszukaufen.
»Ich danke dir«, sagte er, und dann wandte er sich an Mattsson. »Ich möchte das vorher noch mit meiner Frau besprechen. Wir können abmachen, daß ich morgen nachmittag um vier Uhr zu Ihnen ins Büro komme, würde das passen?«
»Ausgezeichnet«, sagte Mattsson.
Abends saßen sie in der Küche des Schreinerhauses, Grankvists und Melchersons. Viele Abende hatten sie hier zusammen gesessen, aber nie so mutlos, nie so schweigsam. Und was sollten sie auch sagen? Melcher sagte kein Wort. Er fühlte einen Schmerz in seiner Brust, und deshalb konnte er nicht sprechen. Nisse und Märta sahen ihn schüchtern an. Sie hatten ihm klarmachen wollen, daß auch sie sehr traurig waren und daß sie ihn und seine Familie sehr vermissen würden. Aber Melcher sah so verstört aus, daß sie doch lieber schwiegen.
Nun saßen sie alle still da, während sich die Dämmerung des Sommerabends herabsenkte, und im Dunkel der Küche konnte jeder seinen eigenen düsteren Gedanken nachgehen, ohne dabei von den anderen gestört zu werden.
Was für ein seltsamer Sommer, dachte Malin. Sie erinnerte sich an den vorigen, wie ruhig und friedvoll und ereignislos er gewesen war. Was aber war mit diesem los? Welch eine Berg-und Talbahn! In einem Augenblick Petter und ein völlig unwahrscheinliches Glück, weil er da war, im nächsten Augenblick Tränen und Verzweiflung, zuerst das mit Pelle und Jocke, dann das mit Bootsmann und nun dies letzte, das Bittere, Unerträgliche, das das Ende sein würde. Ja, ein bitteres Ende war es in der Tat.
Tjorven lag auf dem Fußboden neben Bootsmann, Pelle lehnte mit dem Rücken an der Holzkiste und hatte Jumjum auf dem Schoß. Für Pelle war das Dasein sowieso immer ein bißchen Berg-und-Tal-Bahn mit riesigen Unterschieden zwischen dem Schönen und dem Traurigen, und eben jetzt war er trotz Jumjum so tief unten im Tal, wie es nur ging. Am schlimmsten war es, Papa so verzweifelt zu sehen. Alles andere konnte er aushalten, aber nicht, daß Papa traurig war. Oder Malin. Oder Johann. Oder Niklas. Sie durften nicht so traurig sein. Pelle hielt es nicht aus, alles, aber das nicht! Er drückte Jumjum gegen seine Wange und versuchte, sich von dessen Wärme und Weichheit etwas Trost zu holen, aber es nützte nicht viel.
Tjorven weinte leise und böse. Heute morgen war sie keck gewesen, da hatte sie noch nicht begriffen, was geschehen würde. Jetzt wußte sie es, und es war zum Aus-der-Haut-Fahren! Ihr tat Pelle so leid und sie sich selber auch. Weshalb mußten Menschen immer alles durcheinanderbringen? Zuerst Vesterman und jetzt dieser dicke Karlberg und seine blöde Lotta. Zum Kuckuck mit ihnen allen. Weshalb konnte man nie in Frieden gelassen werden? Nichts als Jammer in einem fort. Der arme Pelle, sie hätte ihm so gern etwas geschenkt, damit er wieder froh würde. Aber diesmal hatte sie keinen Seehund. Sie hatte nichts.
Читать дальше