Er brüllte noch immer, ohne sich umzudrehen: »Kommt, Johann und Niklas! Beeilt euch!«
Erst als der Dampfer schon mehrere Meter von der Brücke entfernt war, entdeckte Melcher, daß er nicht nur Johann und Niklas mitbekommen hatte, sondern auch Pelle und Tjorven.
»Was fällt euch denn ein?« sagte Melcher vorwurfsvoll. »Dies ist aber wirklich nichts für kleine Kinder.«
»Tsss«, machte Tjorven, »wir wollen doch auch mit. Es ist eine Ewigkeit her, daß ich in Norrtälje war.«
Melcher sah ein, daß hier nichts zu machen war. Er konnte die Kinder ja nicht ins Wasser werfen. Und er hatte heute ein staatliches Stipendium bekommen, da mußte er edel und milde sein. Außerdem mußte er nach dem Laufen so nach Luft schnappen, daß er keine weiteren Vorwürfe hervorbringen konnte.
»Man läuft ja aber wie ein Hirsch«, sagte er atemlos. »Natürlich nicht so wie in der Schule, da bin ich hundert Meter in 12,4 Sekunden gelaufen.« Johann und Niklas wechselten einen Blick, und Johann schüttelte den Kopf.
»Es ist komisch mit dir, Papa, je älter du wirst, desto schneller bist du gelaufen, als du noch zur Schule gingst.«
Aber es war natürlich gut, daß Melcher wie ein Hirsch laufen konnte. Denn an diesem Tag mußte er noch viel laufen.
Es dauert eine geraume Zeit, bis man nach Norrtälje kommt, wenn man auf Saltkrokan wohnt. Zuerst nimmt man den Dampfer bis zu einer Anlegestelle auf dem Festland, und an diesem Anleger sitzt man ungefähr eine Stunde und wartet. Dann kommt endlich ein Bus, und dieser Bus fährt nach Norrtälje. Er hält unterwegs an vielen Haltestellen und hat keine übertriebene Eile, aber seinen Fahrplan hält er ein. Um ein Uhr soll er in Norrtälje sein, und das ist er.
Und bis dahin hat man graue Haare gekriegt, dachte Melcher, als er aus dem Bus stieg. Übrigens, weshalb auch nicht? Er hatte ja schon welche gehabt, als er einstieg, fiel ihm plötzlich ein, na ja, nur ein bißchen an den Schläfen natürlich. Wie dem auch sei, auf einer so langen Fahrt hat man Zeit, sich viele ängstliche Gedanken zu machen. Man sitzt da und wird immer aufgeregter, und man ermahnt sich selber wieder und wieder: Bilde dir nichts ein, das Schreinerhaus bekommst du nicht, bilde dir das um Himmels willen nicht ein!
Den Versuch aber wollte er machen, wahrhaftig, das wollte er! Er lief, und die Kinder in einer Reihe hinter ihm her, so rasch er nur konnte, zu Mattssons Hausmakler-und Vermietungsbüro. Dort war kein Mattsson nur eine kleine, rundliche Büroangestellte, die freundlich aussah, aber nichts wußte.
»Wo ist Herr Mattsson?« fragte Melcher.
Sie sah ihn mit einem frommen Blick an. »Wie soll ich das wissen?«
»Wann kommt er denn wieder?«
»Wie soll ich das wissen?«
Ihre Augen waren groß und einfältig, und es war ganz offenkundig, daß sie überhaupt von nichts etwas wußte. Aber plötzlich nahm sie einen kleinen Spiegel hervor und musterte ihr rundliches Gesicht genau, und das belebte sie so, daß sie richtig gesprächig wurde.
»Er ist dauernd unterwegs. Mir ist so, als hätte er gesagt, er wollte Rhabarber einkaufen gehen. Vielleicht ist er aber auch bei seinem Neubau. Manchmal sitzt er im Stadthotel und säuft.«
Mehr kriegten sie aus ihr nicht heraus, und sie stürmten ebenso schnell wieder hinaus, wie sie gekommen waren.
Melcher schaute auf seine Uhr. Sie zeigte etwas über zwei. Wo war nur dieser Mattsson? Wo in dieser hübschen kleinen Stadt war der elende Mattsson? Sie mußten ihn erwischen, und zwar schleunigst. Rhabarber kaufen, das tat man wohl auf dem Markt? Aber hier handelt es sich nicht um Rhabarber, Herr Mattsson, sondern um das Schreinerhaus!
Melcher war so nervös, daß er zitterte, und es war ihm lästig, Pelle und Tjorven immer mitzuschleifen. In den engen Straßen war es hinderlich, so viele zu sein. Man konnte nicht wie eine ganze Schwadron ankommen. Melcher entschloß sich zu einer List.
»Wollt ihr Eis haben, Kinder?« fragte er.
Das wollten sie. Melcher kaufte in einer Eisbude Eis, und mit je einer Eistüte in jeder Hand lockte er Pelle und Tjorven zu einer kleinen Grünanlage, wo eine Bank stand.
»Ihr setzt euch hierher«, sagte Melcher, »und eßt euer Eis, bis wir zurück sind.«
»Wenn das Eis aber alle ist?« fragte Tjorven.
»Dann bleibt ihr trotzdem hier sitzen.«
»Wie lange denn?« fragte Tjorven.
»Bis ihr Moos angesetzt habt«, sagte Melcher unbarmherzig, und dann lief er davon. Johann und Niklas liefen hinterdrein. Pelle und Tjorven blieben auf der Bank sitzen und aßen Eis.
Im Traum läuft man manchmal und sucht. Man muß unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man läuft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich. Genauso erlebten Melcher und seine Jungen die Stunden, während sie nach Mattsson suchten.
Auf dem Markt war er nicht. Doch, er sei dort gewesen, sagte eine der Marktfrauen, das sei aber lange her. Und sein Neubau? Wo lag der? Am anderen Ende der Stadt. Auch dort kein Mattsson! Sitzt er wirklich im Stadthotel und trinkt? Nein, das ist schändliche Verleumdung, das tut er bestimmt nicht. Dort war nicht einmal ein Schimmer von einem Mattsson zu erblicken.
Und plötzlich wurde es Melcher klar, daß er ein Rindvieh war. Er schlug sich gegen die Stirn.
»Natürlich bin ich ein Rindvieh«, rief er. »Weshalb sitzen wir nicht in Mattssons Büro und warten dort, anstatt hier herumzurennen und uns die Füße wundzulaufen?«
In diesem Augenblick, genau in diesem Augenblick machte er eine entsetzliche Entdeckung. Seine Uhr war stehengeblieben! Er sah plötzlich, daß die Uhr des Stadthotels fünf Minuten nach vier zeigte und nicht halb vier wie seine eigene tückische Armbanduhr. Es war ein grausamer Augenblick.
Ich habe dich gewarnt, Melcher. Du solltest dir bloß nichts einbilden. Wie solltest du das Schreinerhaus kaufen können, wo du nicht einmal aufpassen kannst, wieviel Uhr es ist? Es ist jetzt zu spät, lieber Melcher! Gerade jetzt sitzt Direktor Karlberg mit der Zigarre im Mund in Mattssons Büro und gluckst vor Zufriedenheit.
Melcher sah alles so deutlich vor sich, daß er stöhnte. Er tat Johann und Niklas leid, aber gleichzeitig waren sie wütend. War es denn wirklich nötig, daß alles so ungerecht und falsch und unmöglich und jammervoll war? Johann knirschte mit den Zähnen.
»Der kann auch zu spät kommen. Wir nehmen ein Taxi, Papa!« Und sie nahmen ein Taxi. Zehn Minuten nach vier waren sie bei Mattsson.
Aber Direktor Karlberg war kein Mann, der zu spät kam. Seine Uhr ging richtig. Es war genauso, wie Melcher es sich vorgestellt hatte. Er saß dort mit der Zigarre im Mund und sah zufrieden aus, und Melcher geriet völlig außer sich.
»Halt«, brüllte er. »Halt, ich biete jetzt auch auf das Haus.«
Da lächelte Direktor Karlberg richtig freundlich.
»Das haben Sie sich ein bißchen zu spät überlegt, fürchte ich.«
Melcher wandte sich verzweifelt an Mattsson.
»Aber, Herr Mattsson, Sie haben hoffentlich ein Herz im Leibe. Wir lieben das Schreinerhaus doch, meine Kinder und ich. Sie können nicht so herzlos sein.«
Mattsson war nicht herzlos. Er war lediglich ganz gleichgültig und ganz geschäftsmäßig.
»Warum sind Sie dann nicht eher gekommen? Bei solchen Geschäften muß man sich sofort entscheiden. Hier wird keinem was an die Hand gegeben. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Sie sind zu spät dran, Herr Melcherson.«
Sie sind zu spät dran, Herr Melcherson – diese Worte werde ich sicher im Ohr behalten, solange ich lebe, dachte Melcher. Und in seiner Verzweiflung wandte er sich auch bittend an Herrn Karlberg. »Um meiner Kinder willen – können Sie nicht bitte darauf verzichten?«
Da war Herr Karlberg beleidigt.
»Ich habe auch ein Kind, Herr Melcherson, ich habe auch ein Kind!« Dann wandte er sich an Mattsson. »Kommen Sie jetzt! Wir wollen versuchen, daß wir Frau Sjöblom erreichen. Ich möchte, daß der Vertrag jetzt gleich unterzeichnet wird.«
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