»Das mag wahr sein«, sagte Hanka freundlich, der vor dem Spiegel stand und so nach ihr hinschaute.
Beate erhob rasch den Kopf und in ihrem Gesicht war ein naiv hoffender Ausdruck.
Hanka lächelte schmerzlich. Er begriff, daß seine Sprache nicht zu den Ohren dieser Frau dringen konnte, daß seine Welt in andern Sphären rollte, daß sein Blut anders beschaffen war und daß Beate dies nicht einmal zu ahnen vermochte. »Richte dich nach dem, was ich gesagt habe«, bemerkte er kühl und wandte sich zum Gehen. Als er den Raum schon verlassen hatte, hörte er Beates aufschreiendes Lachen.
Er kehrte in das Eßzimmer zurück, setzte sich ans Klavier, schlug irgend ein Notenheft auf und präludierte. Aber es war, als ob sich zwischen ihm und dem Instrument eine Wand befinde; die Töne blieben dumpf und fern. Er stand auf, öffnete die Fenster und die Glastür, die in den Garten führte. Er ging hinaus. Von Bäumen und Sträuchern tropfte das Regenwasser, und über den Beeten lag schwärzestes Dunkel. Am weißlichgrauen Himmel schoben sich Wolken hin, und das Gewitter leuchtete noch in der Ferne. Ich war ein andrer Mensch, als jene Blitze noch auf der andern Seite des Horizonts standen, dachte Hanka; zwischen zwei Windstößen hat sich das Schicksal gewandt. Er verfolgte die geschlungenen Gartenwege, und das unveränderliche Tropfen des Wassers klang ihm wie die Hämmer des Klaviers, das an diesem Abend nicht hatte tönen wollen. Es war spät, als er wieder in das Zimmer zurückkehrte, das er nach allen Seiten abschloß. Er nahm in einer Ecke Platz und griff zu einem Buch, zu einem zweiten und dritten. Hanka hatte ein Gefühl der Müdigkeit und Schwere, als ob er zwei Nächte durchzecht hätte. Er streckte sich im Sessel aus, und in seinem Kopfe begann ein hohles Denken, welches in einen hohlen Schlummer überging, als die Blätter im Garten von der Morgenröte zu erglühen anfingen.
Siebenunddreißigstes Kapitel
Nachdem Arnold Hankas Haus verlassen hatte, stand er eine Weile unschlüssig vor dem Tor. Dann schritt er die unbekannte Gasse entlang, kehrte aber wieder zurück. Schweigend standen die Villen und Landhäuser zu beiden Seiten der Straße, und sein Ohr vernahm keinen andern Laut als den des Regens. Er gelangte vor eine Bank, die unter dem Schutze eines alten Kastanienbaumes leidlich trocken geblieben war und setzte sich nieder.
Der letzte Blick und Händedruck Alexander Hankas wollten ihm nicht aus dem Kopf. Arnold fühlte wohl, daß darin mehr und anderes enthalten war als die dankbare Quittung für einen wohlgemeinten Dienst, anderes jedenfalls, als was Arnold erwartet hatte. Er hatte erwartet, daß ein Mann, der behäbig im Finstern gesessen, sich überrascht, tätig und entschlossen dem Licht zuwenden würde, das ihm ein Freund ins Haus getragen. Statt dessen, das verrieten ihm Empfindung und Beobachtung, hatte er einen Gedemütigten hinter sich gelassen. Arnold hatte geglaubt, eine Wahrheitsschuld abzutragen, und er hatte ein Gericht abgehalten. Hankas Blick war deutlich: du hast gerichtet, aber wer hat dich gerufen? War dies nun die Schwäche Hankas oder war es die menschliche Schwäche oder war es Arnolds Irrtum?
Ist es Hankas Schwäche, dachte Arnold, dann beruht sein Glück darauf, nicht zu sehen, wie das meine, sehen zu wollen. Und so wenig ich die Macht habe, ihm mein Gehirn und mein Auge zu geben, so wenig steht bei mir das Recht, ihm meine Wahrheit aufzureden. Hier ist kein Ausweg, obwohl ich sehe, daß jedes Ding, gutes Ding und böses Ding zwei Seiten hat. War es eine menschliche Schwäche, dann kann es ja auch meine Schwäche sein, und es wird für mich um so vielmal schwerer, Recht zu haben, als es außer mir noch Menschen gibt. Was Hanka besitzt, das ist sein Eigentum: Kleid, Haus und Weib. Ich nehme an, Hanka käme zu mir und sagte: deines Vaters Geld, von dem du zehrst, ist durch List, fremden Schweiß und fremde Not zusammengehäuft. Ich müßte es prüfen und richtig finden und müßte von mir werfen, was ich durch Lüge besitze, weil ich doch behauptet habe, daß jeder seine Lüge von sich werfen soll. Aber wie ist es mit Beate? Vielleicht war es der beste Weg, den sie erkannt hat, zu schweigen? Vielleicht war es ihre Kraft, nicht zu bekennen, und sie liebte Hanka am besten, wenn sie sein Nichtwissen liebte? Vielleicht war hier die Lüge das Bessere. Lüge, das ist doch nur ein Wort. Aber wie? wenn er es auf rohe und niederträchtige Art erfahren hätte? ist ein Wille, der etwas vollbringt, nicht ebenso gut wie das Ungefähr? und gilt es darum nicht als Wahrheit, weil ich es gewollt?
Und wenn Lüge nur ein Wort ist, bald so, bald so zu nehmen, dann ist ja auch Ungerechtigkeit nur ein Wort. Wenn man eine Wahrheit nicht schaffen kann, dann kann man ja auch eine Gerechtigkeit nicht schaffen. Vielleicht ist es irgendwo bestimmt, daß die Jüdin ins Kloster kam, vielleicht hat das irgendwo sein Gutes, nur weiß ichs nicht. Aber das wäre ja eine verzweifelte, eine höchst verzweifelte Geschichte, wenn der Mensch nicht mehr imstande ist, zu wissen, was er soll und darf.
Sehr verwirrt erhob sich unser Held und ging wie in einem trübseligen Rausch nach Hause.
Achtunddreißigstes Kapitel
Ende August kehrte Anna Borromeo vom Landaufenthalt zurück. Sie machte sofort Besuche, empfing Besuche, abonnierte für Konzerte und Theater und bereitete sich auf das gewohnte Herbst- und Winterleben vor. Stöße von Romanen kamen von der Buchhandlung und vom Leihgeschäft und keiner konnte sie länger als einen Vormittag festhalten. Sie jagte hierhin und dorthin, klagte über Schlaflosigkeit, schien bald entkräftet, bald überreizt, bald geschwätzig und bald allzu still. Arnold verfolgte aufmerksam ihr Treiben, und ihn beklemmte es, sie und den Oheim in einem so engen und ewigen Verhältnis zu denken, als welches ihm die Ehe erschien.
Friedrich Borromeo war tief in sich gekehrt. Nichts kam der Müdigkeit und Gelassenheit gleich, mit welcher er Messer und Gabel führte, die Speisen auf seinen Teller legte, nichts der Appetitlosigkeit, mit der er aß oder ein Gespräch zu einem vorläufigen Endpunkt schleppte.
Es verdroß und kränkte Arnold, dies zu beobachten. Noch brannte in ihm der Wunsch, sich um Menschen zu bemühen. Als er an einem Morgen mit Borromeo allein beim Frühstück saß, begann er offen: »Könntest du mir nicht sagen, was dich so niederdrückt? Muß denn alles so sein, wie es ist?«
Borromeo zog die Brauen langsam empor. Seine beiden Augensterne rollten erlöschend in die Winkel. »Du fragst wie ein Jüngling«, sagte er, »aber ich kann dir nicht antworten wie ein Mann. Lassen wir das. Auch die Sterbenden haben ein nil nisi bene.«
Als sie sich voneinander trennten, war Borromeos Händedruck voll Wärme. Nichts konnte deutlicher ausdrücken, wie zufrieden er mit ihm war und wie sehr er ihm vertraute.
Mit seinem jungen Lehrer Wolmut hatte Arnold ein gutes Verständnis erreicht. Er erkannte sofort dessen glückliche und gesunde Veranlagung, allen Kräften seines Wesens gleichmäßig zur Entwicklung zu verhelfen und beobachtete ihn so scharf, als ob er durch die fremde Natur seine eigene ohne weiteres vervollkommnen könne.
Völlig das Kind eines wissenschaftlichen Zeitalters, gehörte Wolmut zu jenen Menschen, welche sich eine Weltanschauung aufbauen, um damit das Leben zu kommandieren. Seine kleinsten Geschäfte verrichtete er mit unermüdlichem Eifer und strenger Gewissenhaftigkeit, und seine Armut trug er mit selbstverständlichem Stolz. Er liebte um jeden Preis zu lernen und suchte stets zu helfen. Sein klares Urteil befähigte ihn, jede schadhafte Stelle in der Lebensführung des Andern sofort zu übersehen. Die neugierige Frage tauchte in Arnold auf, wie sich Wolmut gegenüber Elasser und der Gewalttat des Klosters benommen hätte. Seit jener Nacht, die unter dem Kastanienbaum in Regen verflossen war, hatte er nicht aufgehört, sich zur Rechenschaft zu ziehen, mit sich und der Welt zu hadern. Allmählich war sein leidenschaftliches Wollen einem dumpfen Zwiespalt gewichen. Er glich einem Mann, der kampf- und rechtbegeistert vom Schlachtfeld reitet, um Verstärkungen gegen den Feind zu holen; er eilt anfangs und seine Botschaft benimmt ihm noch den Atem. Dann wird seine Stirne kühler. Er beginnt Gefallen an der Landschaft zu finden, läßt allmählich das Pferd im Tritt gehen und an geschützter Stelle grasen; aus der Nacht wird Morgen, aus dem Morgen Mittag. Der drängende Ruf, der seine Schritte beflügelt hatte, verklingt, die schreckensbleichen Gesichter, die ihre flehenden Blicke dem Abgesandten in die Seele bohrten, entrücken unter dem Horizont, und aus dem Geschehenen wird sozusagen eine Vorstellung.
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