Wolmut, wie ein uneigennütziger und gewandter Minister, behandelte jeden Fall mit trockener Sachlichkeit und stand in dem kleinen Tatengewebe aufmerksam da, vielleicht mit Wissen die größere Rolle einstudierend, die er der Welt einst vorzuspielen gedachte. Arnold lernte von ihm, sich auf das Einfache und Zweckdienliche zu beschränken, alles Gebauschte und Überflüssige zu vermeiden. Auch äußerlich lebte er so einfach und mit so ängstlicher Sparsamkeit, daß er zum Spott seiner näheren Umgebung wurde.
Anna Borromeo beobachtete sein Tun mit Verdruß und Entrüstung. Sie hatte jetzt selten Gelegenheit, ihn zu sehen, aber wenn sie ihm begegnete, erbleichte sie vor Zorn. Sie beklagte sich bei ihrem Gatten lebhaft über das Gesindel, welches nun täglich Flur und Treppen stürme. »Gut«, erwiderte der Doktor mit niedergeschlagenen Augen, »ich werde Arnold ersuchen, vor dem Haustor Fräcke und seidene Kleider austeilen zu lassen. Dann kannst du die Herrschaften getrost auch bei dir empfangen.«
»Du hast recht«, gab Anna zurück; »und wir beide werden bei ihm um ein Versorgungsstübchen in Podolin betteln.«
Man meldete Besuch, den Baron Valescott, einen jungen Leutnant, der seit kurzem zu Anna Borromeos eifrigen Verehrern gehörte.
Borromeo begegnete Arnold im Stiegenhaus. »Willst du mich ein Stück begleiten?« fragte er in seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art. Arnold erklärte sich bereit; er war auf dem Wege, Natalie Osterburg zu besuchen. Sie hatte ihm geschrieben, einen langen Brief mit hundert Entschuldigungen, er möge nicht böse sein, sie werde auf Ehrenwort das geliehene Geld am ersten Januar zurückerstatten, er solle sie doch besuchen und damit zeigen, daß er ihr noch freundlich gesinnt sei.
Sie gingen ein Stück Wegs, ohne daß Borromeo, was ihn beschäftigte, in Worte zu fassen vermochte. Er war redensmüde; immer schwerer wurde es für ihn, sich mit der realen Teilnahme des Lebenden vor ein Geschehnis zu stellen, da all und jedes Ding für ihn in ein unermeßliches Meer der Nutzlosigkeit floß. Trotzdem sagte er schließlich mit einem Anflug von kränklicher Ironie: »Du ziehst das lebhafte Mißfallen der besseren Kreise auf dich. Die besseren Kreise wollen nicht, daß man ihre Privilegien, die sie ja freilich nicht ausüben, zu wörtlich nimmt. Du solltest dir ein Sammetpolster kaufen und darauf sitzenbleiben. Tust du es nicht, so werden die besseren Kreise dafür sorgen, daß dein bisheriger Sitz mit Nadeln gepolstert wird. Du siehst, es ist kein schöner Kampf, man kann ihn nicht auf ehrliche Weise führen. Stecknadelschlacht ist es.« Er reichte Arnold die Hand und zog schwermütig die Brauen empor. Arnold sah ihm sinnend nach.
Bei Osterburgs wurde er in das große Wohnzimmer geführt. Im Ofen brannte Feuer. Es war eine ordentliche Versammlung da: Petra, die alte Frau König, Natalie, ihr Mann, ihre beiden Kinder und Hyrtl. Als Arnold eintrat, herrschte die größte Stille, und er gewahrte mit Erstaunen, daß alle Sieben in der gleichen Weise beschäftigt waren. Frau König legte Patiencen mit zierlichen Elfenbeinkärtchen, dasselbe tat Natalie; Petra spielte mit Herrn Osterburg Beziques. Selbst die beiden Kinder beschäftigten sich mit einem Kartenspiel und Hyrtl legte die sogenannte kleine Patience. So saßen sie seit Stunden, nicht nur an diesem Tag, sondern jeden Tag, den Gott gab. Bisweilen fing Frau König an zu schmälen, dann sagte Natalie Pst und vertiefte sich wieder. Hierauf entspann sich unter den Kindern ein bedeutender Kriegslärm und der würdige Vater brachte sie durch einen Zornanfall zur Ruhe, der genügt hätte, um eine Schar von Landsknechten einzuschüchtern. Auch er versank danach wieder im Spiel wie ein Frosch, der flüchtig das Wasser verlassen hat, nur um ein Donnerwetter am Himmel zu bequaken.
Natalie begrüßte Arnold etwas verlegen. Alle hörten auf zu spielen außer Frau König, die dem jungen Mann so vertraulich zulächelte, als ob sie nichts Lieberes als ihn kenne. »Gleich bin ich fertig«, sagte sie mit heiserer Stimme und deutete mit einer übertriebenen Rokokohöflichkeit auf einen leeren Stuhl an ihrer Seite.
Osterburg gähnte, befühlte seine Lenden und warf sich mit gelangweiltem Gesicht auf eine Ottomane, wo er einstweilen wie ein Gestorbener liegen blieb. Die beiden Kinder, gestachelt durch die Anwesenheit eines Fremden, brachen wechselsweise in ein völlig unbegründetes Gelächter aus, als ob es an sich verdienstvoll und der Aufmerksamkeit wert wäre, zu lachen. Mit verurteilendem Gesicht blickte Petra ins Leere.
»Denken Sie nur, ich schlafe nicht mehr«, klagte Natalie. »Seit vielen Nächten kann ich kein Auge mehr schließen.«
Osterburg bewegte sich. »Seit ich dich kenne, meine Liebe, hast du noch nie geschlafen«, rief er verdrossen und gereizt. Zu gewissen Zeiten reizte ihn der harmloseste Laut. Jemand gebrauchte das Wort Kunst und er begann unbestimmt ins Blaue zu schimpfen. Besonders auf neuere Malerei war er schlecht zu sprechen und Richard Wagner war aus unerfindlichen Gründen sein Todfeind. »Wissen Sie, daß ich krank bin?« sagte er jetzt, das Haupt matt nach Arnold drehend. »Ich habe Psorias.« Er hatte irgendwo den Fachausdruck für einen unbedeutenden Ausschlag gefunden und war sehr stolz darauf.
Natalie zog Arnold, der bisher kein Wort gesprochen hatte, in eine Ecke und nahm auf einem niedrigen Sesselchen neben ihm Platz. In atemloser Erregung sagte sie: »Wissen Sie denn schon? Ich hab’ es erst vor einer Woche erfahren –, wissen Sie es?«
»Was?« Arnold war verdutzt.
»Ich möchte Ihnen gern etwas mitteilen, Herr Ansorge«, ließ sich Osterburg wieder vernehmen, »aber geben Sie mir das Ehrenwort, daß Sie Silbe für Silbe glauben wollen?«
»Er braucht einen Maulkorb«, murmelte Hyrtl, der müde und verstimmt aussah.
Natalie klatschte in die Hände. »Petra!« rief sie triumphierend über das ganze Zimmer, »er weiß noch nichts. Also Sie wissen wirklich noch nichts? Seien Sie aufrichtig.«
»Wenn du so schreist, liebes Kind«, fiel die alte Dame mahnend ein, »kann ich unmöglich nachdenken. Ich habe kein Aß mehr, …« Mit verglasten Augen starrte sie auf die soldatisch regelmäßigen Kartenreihen.
»Hanka hat seine Frau weggejagt«, begann Natalie mit Feierlichkeit und sah, die Wirkung erwartend, Arnold gespannt an. Da die Unbeweglichkeit dieser Züge sie enttäuschte, fuhr sie mit berechneter Steigerung fort: »Hanka ist verreist und niemand weiß wohin. Beate hat ein Verhältnis mit Pottgießer, Ihr Freund, Maxim Specht, hat die beiden miteinander bekannt gemacht. Alle Welt spricht davon, jetzt erst, obwohl die Geschichte schon Monate alt ist. Nun? was sagen Sie dazu? Ist das nicht entsetzlich? Aber so reden Sie doch etwas –«
Jetzt erhob sich Petra, schaute tief aufatmend und verzweifelt gegen die Decke des Zimmers und ging schweigend hinaus. Sie kam nach kurzer Zeit mit einem Buch zurück und ihre Züge zeigten ein ehernes Lächeln. Wenn sie ein Wort sprach, war es von der gewähltesten Natürlichkeit, denn sie glaubte sich von andern ebenso unaufhörlich beobachtet wie von sich selbst.
Natalie war unzufrieden mit Arnold. Er war weder überrascht, noch dankbar, weder erschreckt, noch anteilvoll. »Sie sind ein Stock«, sagte sie ärgerlich.
Hyrtl und Arnold gingen zusammen. Hyrtl sagte, er glaube im Ernst, daß sein Herz nicht mehr lange gehorchen werde. Kühl hörte Arnold darüber hinweg.
Durch Schneegestöber und hochliegenden Schnee ging Verena von der Universität nach Hause. In der Nachbarschaft versorgte sie sich für den Mittag mit Schinken und Brot und erstieg nachdenklich die Treppen zu ihrer Wohnung: mit jeder einzelnen wurde ihr Herz schwerer und vergaß die schneeweiße Fröhlichkeit der Straßen. Oben wollte sie Tee kochen, fand aber, daß kein Spiritus mehr da sei. In Hut und Mantel kauerte sie vor den Ofen hin und legte Späne hinein, um aus der Glut noch einmal frisches Feuer zu gewinnen, dann stellte sie sich ans Fenster und ihr Blick schweifte ernsthaft über die zahllosen schneeberahmten Fenster der Höfe, hinter denen bisweilen ein umrißloses fremdes Gesicht auftauchte. Als es im Zimmer warm zu werden begann, nahm sie die Flasche, und, die Treppen hinuntergehend, hatte sie abermals das Gefühl, als nähere sie sich einem Schauplatz der Heiterkeit; in der Tat glich die Straße einem blendend weißen Saal, in welchem die Flocken einen schwerelosen Tanz aufführten.
Читать дальше