»Eigentlich bin ich doch ein guter Kerl«, sagte er sich. »Ich, der Plebejer, habe Mitleid mit einer hocharistokratischen Familie! Ich, der ich in den Augen des Herzogs von Chaulnes ein Domestik bin! Der Marquis ist ein Krösus. Und wie vermehrt er sein Riesenvermögen? Wenn er im Schloß munkeln hört, daß anderntags ein Staatsstreich stattfindet, verkauft er seine Staatspapiere. Und ich, den eine stiefmütterliche Vorsehung in die niedrigste Klasse der Gesellschaft gestellt hat, ich habe ein edles Herz, aber keine tausend Franken Zinsen im Jahre. Das heißt, ich bin bettelarm, jawohl, buchstäblich bettelarm! Und da sollte ich mir ein Vergnügen versagen, das sich mir bietet? Soll vorbeigehen an einem klaren Quell, der meinen Durst stillen kann in der Glut der Wüste der Mittelmäßigkeit, durch die ich mich mühselig schleppe! Hol mich der Teufel! So dumm bin ich nicht. Jeder für sich in dieser Wüste des Egoismus, die man das Leben nennt!«
Er erinnerte sich gewisser verächtlicher Blicke der Marquise von La Mole und besonders ihrer Freundinnen. Und die Freude, über den Marquis von Croisenois zu triumphieren, tat das übrige, um seiner Moralanwandlung den Todesstoß zu geben. »Es wäre mir ein Genuß, ihn gereizt zu sehen!« dachte Julian. »Mit welcher Sicherheit würde ich ihm jetzt einen Degenstich beibringen!« Dabei machte er die Bewegung eines Sekundenstoßes. »Bisher war ich ein armseliges Schreiberlein, das sein bißchen Mut ruhmlos vergeudete! Nach diesem Briefe bin ich seinesgleichen.*
»Ja«, sagte er sich in unendlicher Wonne, wobei er jedes einzelne Wort Silbe für Silbe betonte, »meine und des Marquis Verdienste lagen auf einer Waage, und der arme Müllerssohn aus dem Jura hat den Sieg davongetragen.«
»Famos!« rief er aus. »Das ist ein Gedanke! In diesem Sinne werde ich die Antwort abfassen! Bilden Sie sich nicht ein, Fräulein von La. Mole, daß ich mein Plebejertum je vergesse! Ich werde es Ihnen immer wieder vorhalten und fühlbar machen, daß Sie einen Nachkommen des berühmten Veit von Croisenois, der mit Ludwig dem Heiligen in den Kreuzzug ging, an den Sohn eines Sägemüllers verraten!«
Julian konnte sich in seiner Freude nicht mehr halten. Er mußte in den Garten hinuntergehen. Sein Zimmer, in das er sich eingeschlossen hatte, kam ihm zu eng vor.
»Ich, der arme Bauernjunge aus dem Jura«, wiederholte er sich unaufhörlich, »ich, der ich dazu verurteilt bin, ewig diesen traurigen schwarzen Kittel zu tragen! Ach, zwanzig Jahre früher hätte ich einen Feldrock getragen wie Croisenois und seine Kameraden. Ein Mann meines Schlages wäre vor dem Feind gefallen oder mit sechsunddreißig Jahren General geworden!«
Der Brief, den er krampfhaft in der Hand hielt, gab ihm die Miene und die Haltung eines Helden. »Heutzutage freilich«, sagte er sich, »hat man im besten Falle mit vierzig Jahren ein Einkommen von hunderttausend Franken – in diesem schwarzen Rocke …«
»Tritt gefaßt!« setzte er mit mephistophelischem Auflachen hinzu. »Ich habe mehr Geist als diese Landsknechte! Ich erkenne die Uniform meines Jahrhunderts!«
Und er fühlte fast körperlich, wie sein Ehrgeiz und seine Liebe zum geistlichen Stand schwollen. »Wie viele Kardinäle, noch niedriger geboren als ich, haben doch regiert, mein Landsmann Granvella zum Beispiel!«
Nach und nach legte sich seine Aufregung. Die Vorsicht gewann wieder die Oberhand. Mit seinem Meister Tartüff, dessen Rolle er auswendig konnte, rief er laut aus:
»Ich darf in ihren Worten List nur sehn,
Und traue eher nicht dem süßen Klange,
Als bis von all der Gunst, die ich begehre,
Ein wenig mir das ganze Glück verheißt.
Auch Tartüff ist durch eine Frau zugrunde gegangen, obgleich er seine Sache besser verstand als mancher andre… Meine Antwort könnte herumgezeigt werden …«, fuhr er fort, wobei er Wort für Wort ruckweise ausstieß, mit verhaltener Wut. »Dagegen werden wir uns schützen, indem wir zu Anfang unsrer Antwort die lebhaftesten Wendungen aus dem Briefe der erhabenen Mathilde einfach wiederholen. Ja, aber vier Lakaien des Marquis von Croisenois werden sich auf mich stürzen und mir das Original entreißen. Erfolglos … Ich bin wohlbewaffnet und im Schießen auf Domestiken bekanntlich kein Anfänger. Gewiß! Aber schließlich kriegt mich einer doch unter. Man hat ihm eine hohe Belohnung versprochen … Ich verwunde oder töte ihn … Das will man ja gerade! Dann komme ich mit Fug und Recht in Untersuchungshaft; vor den Richter und ins Zuchthaus … Dort liege ich dann unter vierhundert Lumpen aller Art… Und ich wollte Mitleid mit diesen Leuten haben!«
Er sprang empört auf. »Mitleid! Haben sie vielleicht Mitleid mit unsereinem, wenn man in ihrer Gewalt ist?«
Mit diesem Aufschrei erstarb der Rest von Dankbarkeit gegen Herrn von La Mole, die ihn gegen seinen Willen gequält hatte.
»Nicht so eilig, Ihr Herren Edelleute! Ich begreife diese kleine Betätigung des Machiavellismus. Der Abbé Maslon oder Herr Castanède vom Seminar hätten es nicht besser gemacht. Man wird mir den provozierenden Brief nicht lassen. Einen Augenblick! Zunächst will ich den fatalen Brief in Sicherheit bringen. Ich werde ihn wohlversiegelt an Pirard, nein lieber an Fouqué schicken.«
Julians Blick war unheimlich; sein Ausdruck abscheulich. Er war in Verbrecherstimmung. Ein unglücklicher Mensch allein im Kampfe mit der ganzen Gesellschaft!
»Zur Attacke!« rief Julian.
Mit einem Satz sprang er die Freitreppe hinunter, eilte zu einem protestantischen Buchhändler, kaufte eine dicke Bibel, in deren Einband er Mathildens Brief sehr geschickt verbarg. Dann ließ er sie verpacken und schickte das Paket mit der Eilpost an Fouqué.
Frohgemut schlenderte er in das Palais zurück.
»Jetzt kommen wir daran!« rief er aus, indem er sich in sein Zimmer einschloß und seinen Rock abwarf.
»Gnädiges Fräulein«, schrieb er an Mathilde. »Was soll das? Fräulein von La Mole schickt durch Arsen, ihres Vaters Lakaien, einen allzu verführerischen Brief an einen armen Müllerssohn aus den Bergen, ohne Zweifel, um mit seiner Einfalt zu spielen …«
Im weiteren wiederholte er die verfänglichsten Sätze aus ihrem Briefe.
Julians Antwort hätte selbst der diplomatischen Vorsicht eines Chevaliers von Beauvaisis Ehre gemacht.
Es war erst zehn Uhr. In seinem Glückstaumel und seinem, für einen armen Teufel so ungewohnten Machtgefühl ging Julian in die Oper. Freund Geronimo sang. Noch nie hatte ihn Musik so berauscht. Er fühlte sieh wie ein Gott.
Mathilde hatte nicht ohne innere Kämpfe an Julian geschrieben. Welcher Art auch ihre Neigung zu ihm anfangs gewesen sein mochte, bald triumphierte sie über den Hochmut, der in ihrem Herzen die Alleinherrschaft gehabt, solange sie sich kannte. Ihre kühle stolze Seele fühlte sich zum erstenmal im Leben von einer Leidenschaft getrieben. Aber wenn diese ihren Hochmut auch bändigte, so blieb Mathilde doch den Gewohnheiten ihres Stolzes treu. Erst acht Wochen voller Seelenkämpfe und nie geahnter Empfindungen gossen ihren inneren Menschen sozusagen um.
Mathilde bildete sich ein, das Glück gefunden zu haben. Dieser Glaube ist in mutigen Herzen, wenn sich ein höherer Geist dazu gesellt, allmächtig. Er war es, der den langen Kampf mit der Dezenz und den tausend Dingen des herkömmlichen Pflichtgefühls in ihr geführt hatte. Eines Morgens war sie bereits um sieben Uhr in das Zimmer ihrer Mutter gekommen und hatte um die Erlaubnis gebeten, sich nach Villequieur zurückziehen zu dürfen. Die Marquise würdigte sie keiner Antwort und gab ihr den Rat, sich wieder ins Bett zu legen. Das war die letzte starke Äußerung der gewöhnlichen Sittsamkeit und des Hanges an der hergebrachten Moral.
Die Furcht, etwas Unschickliches zu tun und die geheiligte Lebensanschauung ihres Kreises zu verletzen, hatte nur geringe Macht über ihre Seele. Menschen wie Croisenois, Caylus und Luz hielt Mathilde nicht für geschaffen, sie zu verstehen. Sie schienen ihr gut, wenn man einen Ratgeber braucht, ehe man einen Wagen oder Landgut kauft. Im Grunde fürchtete sie nichts, als daß Julian unzufrieden mit ihr sein könne.
Читать дальше