Die Ungewißheit und die Selbstprüfung, die Mathilden von nun an unablässig beschäftigten, zumal sie bei jedem Gespräche mit Julian neue Nahrung fanden, verscheuchten jedwede Anwandlung von Langeweile, die sie ehedem häufig heimgesucht hatte.
Als Tochter eines geistvollen Mannes, der voraussichtlich Minister wurde und der Geistlichkeit von großem Nutzen sein konnte, war Mathilde ehedem im Kloster Sacré-Cœur der Gegenstand der übertriebensten Schmeicheleien. Das war von unglückseliger Wirkung und nicht wiedergutzumachen. Man hatte ihr eingeredet, daß sie infolge ihrer hohen Geburt, ihres großen Vermögens usw. auf ein höheres Glück Anspruch habe als andre Menschen. Dies ist der Quell, dem die Langeweile der Fürsten und alle ihre Torheiten entspringen.
Mathilde war ein Opfer dieser verhängnisvollen Idee. Mag man noch so viel Geist haben, mit zehn Jahren ist man gegen die wohlbegründet scheinenden Schmeicheleien eines ganzen Klosters nicht gefeit. Von dem Augenblick an, wo sie sich klar ward, daß sie Julian liebte, langweilte sie sich nicht mehr. Tag für Tag beglückwünschte sie sich zu dem Entschluß, sich einer großen Leidenschaft teilhaftig werden zu lassen. »Ein Zeitvertreib, der nicht ohne Gefahr ist!« dachte sie. »Herrlich! Unvergleichlich! Ohne große Leidenschaft bin ich in der schönsten Zeit des Lebens, im Alter von sechzehn bis zwanzig Jahren, vor Langeweile beinahe gestorben. Schon habe ich meine schönsten Jahre verloren. Mein ganzes Vergnügen bestand darin, die Freundinnen meiner Mutter Unsinn schwatzen zu hören. Im Jahre 1792 in Koblenz sollen diese Damen in Handel und Wandel nicht so würdevoll gewesen sein, wie sie heute in ihren Worten sind.«
Während solche Ungewißheiten in Mathildens Seele kämpften, verstand Julian nicht, warum ihre Blicke so oft lange auf ihm haften blieben. Um so mehr merkte er die verdoppelte Kälte im Benehmen des Grafen Norbert und den neuerdings erhöhten Grad von Hochmut im Wesen der Herren Caylus, Luz und Croisenois. Aber an dergleichen war er gewöhnt. Schmerzlich war es ihm nur hin und wieder bei den Abendunterhaltungen, wenn er sich einmal mehr hervorgetan hatte, als es sich für seine Stellung geziemte. Ohne die besondere Bevorzugung von Mathildens Seite und ohne die Neugier, die ihm das Ganze einflößte, wäre er den eleganten jungen Offizieren niemals in den Garten gefolgt, wenn sie Fräulein von La Mole nach Tisch dorthin begleiteten.
»Ich kann mich dem unmöglich noch verschließen!« sagte sich Julian. »Fräulein von La Mole wirft mir eigentümliche Blicke zu. Aber selbst wenn ihre schönen blauen Augen mit der größten Selbstvergessenheit auf mir ruhen, erkenne ich doch tief in ihnen immer etwas Lauerndes, Kaltblütiges, Boshaftes. Kann das Liebe sein? Wie ganz anders waren Frau von Rênals Blicke!«
Einmal nach Tisch hatte Julian den Marquis in sein Arbeitszimmer begleitet, war dann aber schnell in den Garten gegangen. Als er sich der Gruppe um Mathilde unversehens näherte, fing er ein paar sehr laut gesprochene Worte auf. Mathilde hatte ein Wortgefecht mit ihrem Bruder. Deutlich hörte Julian seinen Namen zweimal fallen. Als man sein Nahen wahrnahm, entstand sofort Totenstille. Vergeblich machte man Versuche, sie zu verscheuchen. Fräulein von La Mole und ihr Bruder hatten sich allzusehr ereifert, als daß sie sofort einen andern Gesprächsstoff gefunden hätten. Zugegen waren Caylus, Croisenois, Luz und einer ihrer Freunde. Alle kamen sie Julian eisig vor. Da entfernte er sich wieder.
Am nächsten Tage überraschte Julian den Grafen Norbert und seine Schwester abermals, wie sie gerade von ihm sprachen. Bei seinem Erscheinen trat das nämliche Todesschweigen ein wie am Abend zuvor. Nunmehr war er grenzenlos mißtrauisch. »Sollten sich die sonst so liebenswürdigen jungen Menschen vorgenommen haben, mich lächerlich zu machen?« fragte sich Julian. »Ich muß gestehen, daß dies viel wahrscheinlicher und viel natürlicher wäre als die vermeintliche Leidenschaft des Fräuleins von La Mole für einen armen Schelm von Sekretär. Gibt es in diesen Leuten überhaupt Leidenschaften? Ist ihr Hauptvergnügen nicht vielmehr Spiel und Spott? Sie gönnen mir meine armselige theoretische Überlegenheit nicht. Eifersucht ist eine ihrer Schwächen. So erklärt sich alles. Fräulein von La Mole will mir einreden, daß sie mich gern habe, ganz einfach, um ihren Zukünftigen durch eine kleine Komödie zu belustigen …«
Dieser qualvolle Verdacht änderte Julians inneren Zustand bis in den Grund und zerstörte mit Leichtigkeit die in seinem Herzen keimende Liebe. Sie verdankte ihre Lebenskraft lediglich Mathildens seltener Schönheit oder, genauer gesagt, ihrem hoheitsvollen Wesen und der erlesenen Art, sich zu kleiden. Insofern war Julian Emporkömmling. Eine hübsche Dame der großen Welt macht auf einen geistvollen Mann aus dem Volke, dem sich die ersten Gesellschaftskreise erschließen, immer den größten Eindruck. Es war durchaus nicht Mathildens Charakter, der Julian bis dahin bezaubert hatte. Er war vernünftig genug, einzusehen, daß er ihren Charakter überhaupt noch nicht kannte. Alles, was er davon zu sehen bekam, konnte immerhin nur Schein sein.
Beispielsweise hätte Mathilde um nichts in der Welt die Sonntagsmesse versäumt. Sie begleitete ihre Mutter fast alle Tage in die Kirche. Wenn im Hause La Mole irgendein Unvorsichtiger vergaß, wo er sich befand, und sich den geringsten Scherz über die wahren oder angeblichen Interessen von Thron und Altar erlaubte, so legte Mathilde sofort ein eisiges Wesen an den Tag. Ihr sonst so prickelnder Blick nahm plötzlich ganz und gar den gefühllosen Hochmut eines alten Ahnenbildes an.
Hinwiederum hatte sich Julian vergewissert, daß sie in ihrem Zimmer stets zwei oder drei philosophische Werke von Voltaire hatte. Er selbst holte sich nämlich oft heimlich ein paar der prachtvoll gebundenen Bände der in der Bibliothek vorhandenen Luxusausgabe, wobei er die übrigen Bände etwas auseinanderrückte, so daß die Lücken nicht auffielen. Dabei merkte er, daß noch jemand anders den Voltaire las. Oft waren Bände wochenlang verschwunden.
Herr von La Mole ärgerte sich über seinen Buchhändler, der ihm alle möglichen unechten Denkwürdigkeiten schickte, und beauftragte Julian mit der Anschaffung aller einigermaßen pikanten Neuerscheinungen. Damit sich solches Gift aber nicht im Hause verbreitete, hatte der Sekretär Befehl, diese Bücher in einen besondern Bücherschrank zu stellen, der im Arbeitszimmer des Marquis stand. Julian hatte auch hier sehr bald die Gewißheit, daß solche Neuigkeiten, sofern sie sich gegen die Interessen von Thron und Altar richteten, unverzüglich verschwanden. Norbert las sie gewiß nicht.
Julian überschätzte die Bedeutung dieser Tatsache und bildete sich ein, Fräulein von La Mole habe die Zweizüngigkeit eines Machiavell. Gleichwohl sah er in dieser vermeintlichen Verdorbenheit einen Reiz mehr, ja fast den einzigen nicht körperlichen Reiz, den Mathilde in seinen Augen hatte. Sein Ekel vor Scheinheiligkeit und Tugendgeschwätz verführte ihn zu dieser Übertreibung. Er erhitzte seine Einbildungskraft, ohne daß ihn wirkliche Liebe ergriff. Erst nachdem er sich so in eine gewisse Vergötterung von Mathildens eleganter Figur, ihres ausgezeichneten Geschmacks in Dingen der Mode, ihrer weißen Hände, ihrer schönen Arme und der Disinvoltura aller ihrer Bewegungen hineingeträumt hatte, fühlte er sich verliebt. Um ihren Reizen die Krone aufzusetzen, hielt er sie nun für eine Katharina von Medici. Für den Charakter, den er ihr so verliehen, war nichts geheimnisvoll oder ruchlos genug. Sie war ihm die Inkarnation des Ideals seiner Jugend, mit einem Worte: die ideale Pariserin. Er ahnte nicht, daß es nichts Lächerlicheres gibt, als dem Pariser Charakter eine Tiefe zuzutrauen, die jenseits von Gut und Böse liegt.
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