Er blickte nach Mathildens Fenster. Ihr Zimmer war neben den Gemächern ihrer Mutter, im ersten Stock, unter dem sich ein Zwischenstock befand. Als Julian, den Brief in der Hand, die Lindenallee betrat, die am Hause begann, war er von Mathildens hochgelegenem Fenster aus nicht zu sehen. Das Blätterwerk der alten sorgfältig beschnittenen Bäume vereitelte es.
»Unglaublich!« sagte sich Julian ärgerlich. »Schon wieder unüberlegt! Wenn man sich einen Scherz mit mir leistet, so muß ich meinen Feinden schon den Spaß machen, mit einem Briefe in der Hand aufzutauchen!«
Norberts Zimmer lag genau über dem seiner Schwester. Sobald Julian unter dem Deckung bietenden Laubdache der Lindenallee hervorkam, trat er in das Gesichtsfeld seiner vermutlichen Gegner, des Grafen Norbert und seiner Kameraden.
Fräulein von La Mole zeigte sich hinter den Scheiben ihres Fensters. Er ließ seinen Brief flüchtig sehen. Sie nickte. Julian ging in das Haus zurück und begegnete der schönen Mathilde wie zufällig auf der Haupttreppe. Ihre Augen lachten, als sie behend den Brief ergriff.
»Welche Leidenschaft glühte in den Augen der lieben Frau von Rênal, wenn sie einen Brief von mir in Empfang zu nehmen wagte, selbst noch, als unsre Beziehungen bereits ein halbes Jahr vertraut waren«, dachte Julian bei sich, als er in sein Zimmer hinaufging. »Ich glaube, sie hat mich kein einziges Mal mit lachenden Augen angesehen.«
Über das, was er fernerhin dachte, ward er sich nicht so klar wie hierüber. Vielleicht schämte er sich, daß kleinliche Motive darin auftauchen könnten. »Aber wie anders ist Mathilde in ihrer eleganten Morgenkleidung und in ihrem ganzen Wesen. Auf dreißig Schritt Entfernung sieht ihr jeder Kenner ihren gesellschaftlichen Rang an. Das ist ein unleugbarer Vorzug an ihr.«
Trotz all seiner Ironie war Julian vor sich selber noch nicht ganz ehrlich. Frau von Rênal hatte ihm keinen Marquis von Croisenois zu opfern gehabt. Bei ihr hatte er als Nebenbuhler nur den unnoblen Landrat Charcot, der sich »von Maugiron« nannte, dieweil die Maugirons ausgestorben sind.
Um fünf Uhr erhielt Julian einen dritten Brief. Er flog ihm durch die Tür der Bibliothek zu.
»Immer wieder reißt sie aus. Die wahre Schreibwut!« lachte er. »Wie unsinnig, wenn man sich so bequem sprechen kann! Der Feind will unbedingt Briefe von mir haben, und zwar mehrere!«
Er nahm sich mit dem Lesen Zeit. »Doch wieder nur mondäne Phrasen!« dachte er. Er ward aber blaß, als er las. Es waren nur wenige Zeilen:
»Ich muß Sie sprechen, und zwar unbedingt heute nacht. Seien Sie im Garten, wenn es ein Uhr schlägt. Nehmen Sie die große Leiter des Gärtners, die am Brunnen liegt, legen Sie sie unter meinem Fenster an und kommen Sie zu mir herauf. Es ist Mondenschein, das tut nichts.«
»Die Sache wird ernst!« sagte sich Julian und wurde nachdenklich. »Aber ich falle nicht darauf hinein. Das holde Fräulein kann mich in voller Freiheit in der Bibliothek sprechen. Der Marquis kommt nie dahin, aus Angst, ich könne ihm Geschäftsbücher vorlegen. Er und Graf Norbert, die einzigen Menschen, die diesen Raum überhaupt betreten, sind fast den ganzen Tag außer dem Hause. Man kann leicht aufpassen, wann sie heimkehren. Und da verlangt die erhabene Mathilde, der ein regierender Fürst noch zuwenig wäre, ich solle die tollste Unvorsichtigkeit begehen!
Es ist klar, man will mich zum Narren halten oder ins Verderben stürzen. Erst sollten mich meine Briefe zugrunde richten. Ich war zu vorsichtig. Jetzt suchen sie mich zu einer Tat zu verleiten, die niemand mißdeuten kann. Aber diese lieben Leutchen halten mich doch für gar zu dumm oder gar zu eitel. Teufel noch einmal! Bei hellichtem Mondschein auf einer Leiter sieben Meter hoch in den ersten Stock hinaufklettern, damit mich alle Welt, sogar in den Nachbarhäusern, sieht! Das wird ein Schauspiel ohnegleichen!«
Er ging auf sein Zimmer und packte, dabei pfeifend, seinen Koffer. Er war entschlossen abzureisen, ohne überhaupt zu antworten.
Aber dieser weise Entschluß brachte seinem Herzen keinen Frieden. Als sein Koffer zugemacht war, sagte er sich plötzlich: »Wenn Mathilde nun aber kein falsches Spiel treibt, dann bin ich in ihren Augen ein kompletter Feigling! Ich bin kein Aristokrat von Geburt; somit muß ich große Eigenschaften besitzen, und zwar ordentlich und ehrlich, nicht bloß auf einem geschmeichelten Bilde. Und ich muß sie durch eine drastische Tat beweisen …«
So grübelte er eine Viertelstunde lang. »Warum soll ich mir etwas vorlügen?« sagte er sich endlich. »Ich werde in ihren Augen ein Feigling sein. Damit verliere ich nicht nur den Stern der ersten Gesellschaft – wie man sie neulich auf dem Ballfeste des Herzogs von Retz genannt hat –, sondern auch die Götterfreude, mich dem Marquis von Croisenois vorgezogen zu sehen, dem Sohne eines Herzogs und selber künftigem Herzog, übrigens ist er ein reizender junger Herr, der so manche Eigenschaft besitzt, die mir abgeht, wie hohe Geburt, großes Vermögen, unbedingte gesellschaftliche Gewandtheit. Mein Leben lang wird die Reue an mir nagen, nicht Mathildens wegen … Es gibt ja Weiber die schwere Menge! Aber es gibt nur eine Ehre! Unleugbar, ich verzage vor der ersten wirklichen Gefahr, die mir in meinem Dasein entgegentritt! Denn das Duell mit Beauvaisis ist nicht der Rede wert. Hier drohen ganz andre Gefahren. Ich kann von einem Diener niedergeknallt werden. Aber selbst das ist nicht das schlimmste. Ich kann meiner Ehre verlustig gehen!«
Er hörte nicht auf nachzudenken, während er nervös im Zimmer auf und ab schritt und von Zeit zu Zeit haltmachte. Es stand da eine prächtige Marmorbüste Richelieus. Unwillkürlich blieb Julians Blick auf ihr haften. Es war ihm, als sähe ihn der Kardinal streng an, als würfe er ihm Mangel an Mut vor, das heißt Mangel an dem, was jedem Franzosen angeboren sein soll.
»Zu deiner Zeit hätte ich kaum gezögert, großer Mann!« rief ihm Julian zu.
Endlich sagte er sich: »Nehmen wir einmal das Schlimmste an: ich stünde hier tatsächlich vor einer Falle, so würde Fräulein von La Mole auf das unerhörteste bloßgestellt. Niemand leistet Gewähr, daß ich meinen Mund halte. Folglich müßte man mich umbringen. Derlei ließ sich Anno 1574, zur Zeit des Bonifaz von La Mole, bequem machen. Heutzutage wagt das niemand. Auch keiner derer von La Mole. Die Menschen sind nicht mehr die von damals. Mathilde hat tausend Neiderinnen und Feinde. Morgen schon verkünden vierhundert Salons ihre Schande – und mit Wonne! Die Dienerschaft klatscht sowieso schon über die mir offenkundig zuteil gewordenen Beweise ihrer Gunst. Ich weiß das. Ich habe es hören müssen…
Ich hätte es mit zwei, drei, vier Männern zu tun. Was weiß ich? Aber wo bekommen sie diese Männer her? Wo gibt es in Paris todzuverlässige Untergebene? Man hat Angst vor der Justiz … Schließlich handeln sie in Person: Caylus, Croisenois und Luz! Sie wollen sich den Spaß nicht entgehen lassen, mein dummes Gesicht zu sehen, wenn sie mich überrumpeln … Achtung vor dem Schicksal Abálards, Herr Sekretär! Beim Teufel, ich werde euch heimleuchten! Ich steche ins Gesicht wie Cäsars Soldaten bei Pharsalos!
Und dann habe ich doch Mathildens Briefe! Ich kann sie an einen sicheren Ort bringen –«
Julian siegelte sie ein und adressierte sie an seinen Freund Fouqué. Dann trug er die Sendung selbst zur Post.
Als er zurückkam, war er überrascht und erschrocken. »Das ist ja alles Wahnsinn!« sagte er sich. Er hatte eine Viertelstunde nicht an die kommende Nacht gedacht. »Wenn ich mich um die Sache drücke, werde ich nie wieder Respekt vor mir selber haben! Mein Leben lang werde ich im Zweifel sein, ob ich dieser Tat gewachsen war – Und wie ich mich kenne, wäre solch ein Zweifel mein gräßlichstes Unglück.
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