Julians kluge Reden wurden ihm also als weiteres Verbrechen vorgeworfen. Seine Kameraden beschäftigten sich viel mit ihm. Das Endergebnis all des Abscheus, den er ihnen einflößte, floß in den Spitznamen aus, den Julian bekam: Martin Luther. Vornehmlich wegen der Teufelslogik, mit der er sich brüstete, hieß es.
Etliche der Seminaristen hatten frischere Farben als Julian und konnten für hübscher gelten. Dafür besaß er weiße Hände und ein unverkennbares Reinlichkeitsbedürfnis. Diese Eigenschaften wurden ihm arg verübelt. Die schmutzigen Bauern, unter denen er lebte, erklärten, er sei ein lockerer Bursche.
Von tausend Widerwärtigkeiten sind dies nur Beispiele. Man machte sogar Miene, ihn zu verprügeln. Julian bewaffnete sich deshalb mit einem eisernen Meßstab und gab zu verstehen, wenn auch nur durch Gesten, daß er sich damit wehren werde. Gesten nehmen sich im Tatbericht eines Denunzianten nicht so gefährlich aus wie Worte.
Umsonst suchte Julian dumm und klein zu erscheinen. Er gewann niemanden. Er war allzusehr anders. »Merkwürdig!« sagte er sich. »Meine Lehrer sind doch sehr gescheite Menschen, unter Tausenden erkoren! Warum würdigen sie meine Demut nicht?«
Ein einziger, so schien es Julian, machte sich seinen guten Willen zunutze, indem er seiner Komödie glaubte oder so tat. Das war der Abbé Chas-Bernard, der Zeremonienmeister an der Kathedrale, der seit fünfzehn Jahren auf eine Domherrnstelle wartete. Bis dahin war er Lehrer der geistlichen Beredsamkeit am Seminar.
Zur Zeit seiner Blindheit war Julian auch in diesem Unterrichtsfache einer der Ersten gewesen. Das hatte ihm die Freundschaft des Abbé eingetragen. Nach der Stunde nahm er ihn manchmal am Arm und wandelte mit ihm durch den Garten.
»Ob er dabei eine Absicht hat?« fragte sich Julian. Er wunderte sich, wenn ihm der Abbé stundenlang von den Prunkgewändern erzählte, die im Besitze der Kathedrale waren. Er verlor sich dabei in allerlei Einzelheiten. »Was bezweckt der Mann mit der langweiligen Aufzählung all dieses Trödels?« dachte Julian. »Das kommt mir wie eine schlaue Vorrede vor. Aber immer wieder dasselbe? Es folgt nichts. Er muß mir stark mißtrauen. Allerdings, er ist klüger als alle die andern, die man nach vierzehn Tagen bis in ihre geheimsten Gedanken durchschaut. Auch weiß ich, daß sein Ehrgeiz seit anderthalb Jahrzehnt leidet.«
Eines Abends, mitten in der Fechtstunde, wurde Julian zum Direktor gerufen.
»Morgen ist Fronleichnamsfest«, sagte Pirard. »Herr Abbé Chas-Bernard wünscht, daß Sie ihm beim Ausschmücken der Kathedrale helfen. Gehen Sie und gehorchen Sie!«
Dann rief er ihn noch einmal zurück und sagte ihm in mitleidigem Tone: »Wenn Sie sich bei dieser Gelegenheit ein wenig in der Stadt umsehen wollen, habe ich nichts dagegen.«
Julian erwiderte: » Incedo per ignes!« Zu deutsch: »Ich habe verborgene Feinde!«
Am nächsten Morgen, in aller Frühe, ging er mit gesenktem Blick nach der Kathedrale. Der Anblick der Straße und des beginnenden Lebens in der Stadt tat ihm wohl. Überall sah er, daß man die Häuserfassaden für die Prozession behing.
Es war ihm zumute, als sei er erst gestern in das Seminar gekommen. Das Schloß Vergy erstand vor seiner Phantasie. Dann fiel ihm die hübsche Amanda ein. Ob er ihr begegnen würde? Das Kaffeehaus war in der Nähe. Da erblickte er von weitem, am Portal seiner geliebten Kathedrale, die wohlbeleibte Gestalt des Abbé Chas-Bernard, dessen freundliches offenes Gesicht heute leuchtete.
»Ich warte schon auf Sie, mein lieber Sohn!« rief der Abbé dem Seminaristen aus großer Entfernung entgegen, sobald er ihn erkannt hatte. »Willkommen! Wir haben heute viel und schwere Arbeit. Stärken wir uns durch einen Imbiß. Das richtige Frühstück folgt um zehn Uhr, während des Hochamts.«
»Euer Hochehrwürden bitte ich«, sagte Julian ernst, »mich keinen Augenblick allein zu lassen. Wollen Sie gütigst feststellen, daß ich eine Minute vor fünf Uhr zur Stelle bin?« Dabei zeigte er nach der Turmuhr über ihren Häuptern.
»Aha!« meinte der Abbé. »Sie haben Angst vor Ihren Kollegen! Sie tun den kleinen Bösewichtern zu viel Ehre an. Ein schöner Weg bleibt schön, auch wenn ihn Hecken mit Dornen umstehn. Der brave Wandersmann geht seinen Pfad und läßt die bösen Dornen Dornen sein … Jetzt aber ans Werk, mein lieber Freund! Ans Werk!«
Der Abbé hatte mit seiner Voraussage, die Arbeit sei schwer, nicht unrecht. Am Tage vorher war in der Kirche eine große Trauerfeier abgehalten worden. Man hatte nichts vorbereiten können, und so galt es, an einem Vormittag die gotischen Pfeiler, die die drei Kirchenschiffe bildeten, bis zu einer Höhe von beinahe zehn Metern mit rotem Damast zu bekleiden. Wohl hatte der Bischof vier Tapezierer mit der Eilpost aus Paris kommen lassen. Doch vermochten diese Leute nicht allein mit allem fertig zu werden. Dazu kam, daß sie die schwerfälligen Besançoner Handwerker, die ihnen helfen sollten, durch ihre spöttischen Anweisungen verwirrten, statt sie verständig anzustellen.
Julian sah, daß er selber auf die Leiter steigen mußte. Seine Behendigkeit kam ihm hierbei zugute. Er übernahm die Leitung der einheimischen Arbeiter. Der Abbé schaute ihm voll Freude zu, wie er von einer Leiter auf die andere kletterte. Als alle Pfeiler mit Damast umkleidet waren, galt es, den Baldachin über dem Hauptaltar mit fünf riesigen Federbüschen zu schmücken. Das reichvergoldete Dach ruhte auf acht hohen gewundenen Säulen aus italienischem Marmor. Wenn man nun nach der Spitze des Baldachins, über dem Tabernakel, wollte, mußte man in einer Höhe von mehr denn zwölf Metern über einen alten, vielleicht morschen Holzsims hingehen. Angesichts dieses gefährlichen Steges verloren die Pariser Tapezierer ihre strahlende Heiterkeit. Sie schauten empor, diskutierten lang und breit, aber keiner von ihnen stieg hinauf.
Julian ergriff die Federbüsche, kletterte flugs die Leiter hinan und befestigte die Büsche säuberlichst in Form einer Krone auf der Dachspitze des Baldachins. Als er wieder unten anlangte, schloß ihn der Abbé gerührt in die Arme.
» Optime!« rief der biedere Priester. » Optime! Das werde ich Seiner Hochwürden vermelden.«
Das Zehn-Uhr-Frühstück verlief in frohester Stimmung. Abbé Chas-Bernard hatte seine Kirche noch nie so schön gesehen.
Er begann zu erzählen: »Mein lieber Schüler, hier in dieser ehrwürdigen Basilika war meine selige Mutter Stuhlvermieterin. Ich bin also in diesen hohen Hallen aufgewachsen. Dann kam die Schreckensherrschaft Robespierres und richtete uns zugrunde. Bereits als kleiner Bursche von acht Jahren ministrierte ich bei den Messen. An solchen Tagen gab man mir das Mittagessen. Niemand verstand ein Meßgewand so gut zusammenzulegen wie ich. Nie wurden die Goldborten geknickt. Seit der Wiedereinführung des Gottesdienstes durch Napoleon habe ich das Glück, die Zeremonien in dieser ehrwürdigen Kathedrale zu leiten. Fünfmal im Jahre sehen meine Augen die Kirche in diesem herrlichen Schmuck. Aber niemals hat sie so prächtig ausgesehen. Niemals lag der Damast so glatt an den Säulen …«
»Endlich«, dachte Julian, »wird er sich mir anvertrauen. Er fängt an, von sich zu reden. Er wird mir sein Herz ausschütten.«
Aber es kam nichts Unbedachtes über die Lippen des so sichtlich begeisterten Mannes. »Er ist glücklich«, sagte sich Julian. »Das ist ein Mann! Ein Vorbild für mich. Ehre, wem Ehre gebührt!«
Dieses Sprichwort war eine Erinnerung an den alten Stabsarzt, den Freund seiner Kindheit.
Als es dann beim Hochamt zum Sanktus klingelte, wollte Julian ein Chorhemd anziehen und sich der Prozession anschließen.
»Die Diebe, mein lieber Freund! Die Diebe!« rief der Abbé. »Daran denken Sie nicht! Die Prozession wird gleich dasein. Wir müssen achtgeben, Sie und ich. Wir können froh sein, wenn uns hinterher bloß ein paar Ellen von der schönen Borte fehlen, die unten um die Säulen läuft. Echte Goldborte, Verehrtester! Sie werden das nördliche Seitenschiff beaufsichtigen. Bleiben Sie ja dort! Ich nehme das Hauptschiff und das südliche Seitenschiff. Passen Sie auf die Beichtstühle auf! Daselbst lauern die Helferinnen der Diebe auf den Moment, wo wir den Rücken kehren.«
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