Die Stimme eines Freundes hatte Julian sehr lange nicht vernommen, und so muß man ihm die Schwäche nachsehen, daß er in Tränen ausbrach. Gerührt schloß ihn der Abbé in die Arme. Es war ein Moment, gleich wonnesam für beide.
Julian war toll vor Freude. Das war seine erste Beförderung. Die Vorteile waren beträchtlich. Um sie zu ermessen, muß man dazu verdammt gewesen sein, monatelang, ohne eine Minute des Alleinseins, im engsten Verkehr mit Kameraden zu leben, die zum mindesten lästig, zumeist aber unerträglich sind. Schon ihr Geschrei reichte hin, eine sensible Natur zu verstimmen. Alle diese wohlgenährten und gutgekleideten Bauernjungen empfanden erst dann den vollen Genuß ihrer animalischen Fröhlichkeit, wenn sie recht lärmen konnten.
Fortan bekam Julian seine Mahlzeiten eine Stunde später als die andern Seminaristen, zunächst allein. Er erhielt einen Schlüssel zum Garten, wo er sich ergehen durfte, wenn kein Mensch darin war.
Zu seinem großen Erstaunen nahm er wahr, daß er jetzt weniger gehaßt wurde. Er hatte auf eine Verdoppelung des Hasses gerechnet. Sein geheimer, aber zu leicht erkennbarer Wunsch, von niemandem angeredet zu werden, hatte ihm ehedem manchen zum Feinde gemacht. Jetzt wurde das nicht mehr als Zeichen lächerlichen Hochmuts aufgefaßt. Jetzt war dies den Rohlingen, die ihn umgaben, eine berechtigte Äußerung seiner Würde. Die Feindseligkeit gegen ihn nahm zusehends ab, besonders unter den jüngeren Kameraden, die nun seine Schüler wurden und die er sehr höflich behandelte. Nach und nach gewann er sogar Anhänger, und bald galt es für unmanierlich, ihn Martin Luther zu nennen.
Seit Julian seine neue Würde bekleidete, sprach der Direktor Pirard absichtlich nur noch vor Zeugen mit ihm. Das war klug gehandelt, sowohl in Hinsicht auf den Lehrer wie auf den Schüler. Vor allem aber sollte es eine Prüfung sein. Als strenger Jansenist hatte Pirard folgenden Hauptgrundsatz: »Je mehr Verdienste ein Untergebener in unsern Augen hat, um so mehr muß man ihm all sein Tun und Trachten erschweren. Ist er wirklich etwas wert, so wird er die Schwierigkeiten umgehen oder überwinden.«
Zur Jagdzeit hatte Fouqué den Einfall, dem Seminar als angebliches Geschenk von Julians Eltern einen Hirsch und ein Wildschwein zu schicken. Dies Wildbret hing im Gang zwischen Küche und Refektorium, so daß alle Seminaristen es sehen mußten, wenn sie zum Essen gingen. Das war ein Ereignis, das die allgemeine Neugierde erregte. Acht Tage lang redete man von nichts anderm.
Diese Schenkung machte Julians Eltern zu Respektspersonen und beseitigte den Rest des Hasses gegen Julian. Der Reichtum seiner Familie sanktionierte seine Überlegenheit. Chazel und andre Größen der Seminaristenschaft suchten sichtlich den nähern Verkehr mit ihm. Beinahe hätten sie ihm einen Vorwurf daraus gemacht, daß er sie bisher vom Wohlstande seiner Familie nicht gehörig in Kenntnis gesetzt und sie in die peinliche Lage gebracht hatte, ihm die einem reichen Manne gebührende Hochachtung versagt zu haben.
Um diese Zeit fand eine Rekrutenaushebung in Besançon statt. In seiner Eigenschaft als Priesterschüler kam Julian frei. Dies bewegte ihn tief. »Ich bin zwanzig Jahre zu spät geboren! So habe ich die Zeit verpaßt, in der ich ein Held hätte werden können! Nie kehrt sie wieder!«
Als er an diesem Tage allein im Garten spazierenging, hörte er, wie einer der Arbeiter, die an der Umfassungsmauer zu tun hatten, bemerkte: »Na, nun müssen wir fort! Uns heben sie sicher aus.«
Ein andrer meinte: »Zu des Kaisers Zeit, ja, da wurde unsereiner wenigstens was, Offizier, sogar General. Man hat Beispiele!«
»Das war einmal!« lachte ein dritter. »Wer wird denn heutzutage Soldat? Arme Schlucker! Wer was hat, bleibt daheim!«
»Und wer im Dreck geboren ist, der bleibt im Dreck!«
»Sagt! Ist es denn eigentlich wahr, was man so sagt, daß er tot ist?«
»Die Angstmeier behaupten es.«
»Wie hat sich die Welt geändert! Zu seiner Zeit, das war ein ander Ding! Aber seine Marschälle haben ihn verraten. Die Schufte!«
Dies Gespräch tröstete Julian einigermaßen. Im Weitergehen seufzte er:
»Der einzige, den nie sein Volk vergißt!«
Die Examenszeit kam heran. Die Examinatoren waren von dem berüchtigten Großvikar von Frilair ernannt worden. Julian gab ausgezeichnete Antworten. Er machte die Wahrnehmung, daß selbst Chazel sein Licht nicht unter den Scheffel stellte.
Am ersten Prüfungstage mußten die Examinatoren Julian Sorel, der ihnen als Lieblingsschüler des Abbé Pirard bezeichnet worden war, zu ihrem Leidwesen allenthalben als Besten oder Zweitbesten in ihre i Listen eintragen. Schon wettete man im Seminar, Julian werde in der Schlußliste als Allererster stehen, was die Ehre nach sich zog, zu Seiner Hochwürden dem Bischof zu Tisch befohlen zu werden.
Gegen das Ende der Prüfung kam die Rede auf die Kirchenväter. Nachdem der betreffende gewandte Examinator vom heiligen Hieronymus und dessen Vorliebe für Cicero gesprochen hatte, schwenkte er auf Horaz, Virgil und andre profane Dichter über. Ohne Wissen seiner Mitschüler hatte Julian eine stattliche Anzahl Stellen aus diesen Autoren auswendig gelernt. Von seinen Erfolgen hingerissen, vergaß er den Ort, an dem er stand, und sagte auf wiederholtes Befragen des Prüfenden mehrere Oden des Horaz auf und erläuterte sie voll Begeisterung.
Zwanzig Minuten lang ließ ihn der Examinator sich begeistert aussprechen. Dann zog er plötzlich eine andre Miene auf und tadelte Julian scharf, daß er seine Zeit mit so weltlichen Studien vergeudet und sich den Kopf mit so unnützen und sündhaften Dingen beschwert habe.
»Es war töricht, Euer Hochwürden; ich sehe es ein«, erwiderte Julian bescheiden. Er erkannte, in welche schlau gelegte Falle er gegangen war.
Die Hinterlist des Examinators wurde unter den Seminaristen allgemein verurteilt. Der Abbé von Frilair aber, der Oberexaminator, der die Fäden der geheimen Kongregation zu Besançon in seiner geschickten Hand hielt, ein Intrigant, vor dessen Berichten nach Paris die Regierungsoberbeamten, die Richter, ja sogar hohe Offiziere der Garnison zitterten, setzte, mächtig wie er war, in gewichtigen Zügen die Ziffer 198 neben Julians Namen in die Schlußliste. Es bereitete ihm Vergnügen, seinem Feinde, dem Jansenisten Pirard, wieder einmal eins auszuwischen.
Seit einem Jahrzehnt war es das Ziel seiner Umtriebe, dem Abbé die Seminarleitung zu entreißen. Pirard hatte die Grundsätze, die er Julian vorgeschrieben, in seinem eignen Lebenswandel streng befolgt; er war wahrheitsliebend, fromm, ehrlich und pflichtgetreu. Aber der Himmel in seinem Zorne hatte ihm das Temperament eines Cholerikers gegeben. Gegen Beleidigungen und Gehässigkeit war er überempfindlich. Seine Feuerseele nahm jede Kränkung auf. Hundertmal schon wäre er freiwillig von seinem Posten gegangen, wenn er nicht den Glauben gehabt hätte, daß er auf dem Platze, an den die Vorsehung ihn gestellt, eine Aufgabe zu erfüllen habe. »Ich bin ein Prellstein gegen das Weitervordringen von Jesuitentum und Götzendienerei«, sagte er sich.
Zur Zelt der Examina war es etwa zwei Monate her, daß er mit Julian gesprochen hatte, und doch war er acht Tage lang krank, als er den Prüfungsbericht des Oberexaminators durchlas und neben dem Namen des Schülers, den er für die Leuchte seiner Schule hielt, die Zensur 198 fand. Der strenge Moralist suchte seinen einzigen Trost darin, daß er sein Augenmerk auf Julian verdoppelte. Zu seiner Herzensfreude sah er ihn weder voll Wut noch voll Rachgier und auch nicht mutlos.
Ein paar Wochen später bekam Julian zu seinem Schreck einen Brief aus Paris. »Endlich«, dachte er, als er den Poststempel las, »endlich erinnert sich Luise ihres Versprechens.«
Ein angeblicher Verwandter, als Paul Sorel unterzeichnet, sandte ihm einen Scheck auf fünfhundert Franken und stellte die nämliche Summe alljährlich in Aussicht, wenn sich Julian weiterhin mit Erfolg dem Studium der lateinischen Klassiker widme.
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