In Wirklichkeit war seine Aufführung im großen und ganzen klug gewesen. Nur hatte er bisher den Kleinigkeiten zu wenig Wert beigemessen. Die Schlauen im Seminar sahen in den Kleinigkeiten die Hauptsache. Sie hatten ihn in Hinsicht auf diese kleinen Dinge beobachtet und hatten festgestellt, daß er Grütze im Kopfe hatte. Gleichwohl erklärte man ihn eines Riesenfehlers für überführt: er dachte und verriet ein selbständiges Urteil, statt daß er Autorität und Tradition blind anerkannte.
Der Abbé Pirard hatte Julian nichts genützt. Außerhalb des Beichtstuhles hatte ihn der Direktor kein einziges Mal angesprochen, und selbst bei der Beichte hatte er ihm mehr zugehört denn selbst etwas gesagt. Das wäre ganz anders gewesen, wenn sich Julian den Abbé Castanède zum Beichtvater gewählt hätte.
Von dem Augenblick an, wo Julian seine Unklugheit erkannte, langweilte und ärgerte er sich nicht mehr. Er wollte das Übel an der Wurzel fassen, und so gab er sein beharrliches und hochmütiges Sichabsondern auf, durch das er seine Kameraden vor den Kopf gestoßen hatte. Aber jetzt rächten sich seine früheren Fehler. Man nahm sein Entgegenkommen mit Verachtung, ja mit Hohn auf. Jetzt sah Julian, daß seit seinem Eintritt in das Seminar keine Stunde verstrichen war, besonders in den Pausen, in denen man nicht für oder wider ihn Stellung genommen hatte. Er hatte sich viele Feinde gemacht, wenn er sich auch das Wohlwollen einzelner, die wirklich fromm und nicht so ordinär wie die Mehrzahl waren, erworben hatte. Es war ungeheuer viel wieder gutzumachen, und das war durchaus nicht leicht. Fortan war er unablässig auf seiner Hut. Sein Ziel war es nun, sich als völlig gewandelter Mensch zu präsentieren.
Er hatte schwere Arbeit an sich selbst. Zum Beispiel machten ihm seine Augen viel zu schaffen. »Man muß sie wohlweislich an frommen Orten zu Boden schlagen. Wie dünkelhaft war ich doch in Verrières«, gestand er sich. »Ich glaubte in der Welt zu sein, aber dort, das war nur eine Vorstufe. Hier erst bin ich in der Welt, so wie ich sie vor mir haben werde, bis ich meine Rolle ausgespielt habe. In der Welt sein, heißt von wahren Feinden umgeben sein. In allen Augenblicken heucheln zu müssen, ist maßlos schwer. Die Arbeiten des Herkules sind nichts dagegen. Ein moderner Herkules war Papst Sixtus der Fünfte, gegen Ende des Cinquecento. Fünfzehn Jahre lang hat er vierzig Kardinale getäuscht, die ihn als hochmütigen lebhaften jungen Mann gekannt hatten, indem er vor ihnen den Demütigen spielte.«
Ärgerlich fuhr er fort: »Die Wissenschaften gelten also in diesem Hause nichts. Fortschritte in der Dogmatik und in der Kirchengeschichte werden nur zum Schein anerkannt. In Wirklichkeit hat alles, was in diesen Gebieten vorgetragen wird, nur den Zweck, Narren wie mich in die Falle zu locken. Zum Teufel, gerade diesem Plunder gegenüber habe ich rasche Fortschritte gemacht und Auffassungsfähigkeit gezeigt. Das war meine einzige Leistung. Und darauf war ich stolz, ich Tor! Die guten Zensuren, die ich regelmäßig bekomme, haben mir nichts eingebracht als bittere Feinde. Chazel, der mehr Kenntnisse hat denn ich, macht in seine Arbeiten immer absichtlich Fehler hinein, damit er eine mittelmäßige Zensur erhält. Bekommt er einmal die Eins, so ist seine Unachtsamkeit daran schuld … Ach, wie nützlich wären mir ein paar Fingerzeige Pirards gewesen!«
Von der Stunde an, da er klarsah, wandelten sich ihm die langwierigen Übungen in frommer Askese, das Rosenkranzbeten fünfmal in der Woche, das Absingen der Herz-Jesu-Lieder und ähnliche Verrichtungen, die ihm früher zum Sterben öde vorgekommen waren, zu höchst interessanten Betätigungen. Indem er streng über sich nachdachte und sich insbesondre vor der Überschätzung seiner Kräfte hütete, war es ihm nicht wie den Seminaristen, die den andern zum Vorbild dienten, glattweg darum zu tun, jeden Augenblick etwas Bezeichnendes zu vollbringen, d. h. christliche Vollkommenheit an den Tag zu legen. Im Seminar versuchte man durch die Art, das Ei in der Schale zu essen, Fortschritt in der Heiligkeit zu dokumentieren.
Julians Streben ging zunächst dahin, das non culpa zu erreichen, also das Niveau des jungen Seminaristen, dessen Gang, Arm-und Augenbewegungen nichts eigentlich Weltliches zeigen, aber auch noch nicht von dem Glauben an das Leben im Jenseits und an die absolute Nichtigkeit dieser Welt völlig beherrscht werden.
An die Wände der Gänge waren allerlei Sprüche gekritzelt, zum Beispiel: »Was sind sechzig Jahre Prüfung im Vergleich zur Ewigkeit im Paradiese oder zur Ewigkeit im siedenden Öl der Hölle?« Er hatte dergleichen Sätze früher belächelt. Jetzt begriff er, daß man sie immerdar vor Augen haben müsse. »Was wird denn meine Beschäftigung lebenslang sein?« fragte er sich. »Ich werde den Frommen Plätze im Himmel verkaufen. Und wie kann man sie überzeugen, daß diese Plätze wirklich existieren? Doch nur dadurch, daß man sich selber äußerlich anders zeigt, als der Laie aussieht.«
Nach mehreren Monaten beständiger Selbstzucht sah man Julian immer noch an, daß er dachte. Seine Art, die Augen zu bewegen, den Mund zu verziehen, zeigten noch nichts von jener Glaubenseinfalt, die imstande ist, alles zu glauben und alles zu dulden, und wäre es das Martyrium. Voll Ingrimm erlebte es Julian, daß die dümmsten Bauerntölpel ihn in dieser Kunst übertrafen. Es war allerdings kein Wunder, daß diese Burschen nicht aussahen wie Denker.
Julian gab sich unsägliche Mühe, den Gesichtsausdruck jenes blinden fanatischen Glaubens zu erringen, den man unter den italienischen Mönchen so häufig antrifft. Meister Guercino führt ihn dem Laien in seinen Kirchenbildern wahrheitsgetreu vor Augen.
An den hohen Festtagen gab es im Seminar Bratwurst mit Sauerkraut. Julians Tischnachbarn bemerkten, daß er keinen Sinn für diesen Hochgenuß hatte. Das war wieder ein Kapitalverbrechen. Seine Kameraden erblickten darin häßliche dumme Heuchelei. Nichts schuf ihm mehr Feinde. »Seht den eingebildeten Bourgeois!« tuschelten sie untereinander. »Er tut so, als verachte er Bratwurst und Sauerkraut! Diese Delikatesse! Zum Teufel mit so einem gottverdammten albernen Fatzken!«
Eines Tages ließ der Direktor Pirard Julian zu sich rufen. Es war mitten in der Kirchenlehre-Stunde. Der Ärmste war froh, der körperlichen und geistigen Enge des Unterrichts entrinnen zu dürfen.
Der Abbé empfing ihn in der nämlichen furchterweckenden Art und Weise wie damals, als Julian in das Seminar eintrat.
»Erklären Sie mir, was auf dieser Spielkarte steht!« befahl er mit einer Miene, als wolle er seinen Zögling morden.
Julian las: Amanda Binet. Café zur Giraffe. Vor acht Uhr. Sagen, aus Genlis gebürtig und Vetter meiner Mutter.
Julian erkannte die ungeheure Gefahr. Ein Spion des Abbé Castanède hatte ihm diesen Merkzettel gestohlen.
»Am Tage, als ich ins Seminar eintrat…«, berichtete er, und weil es ihm unmöglich war, dem Direktor in seine gräßlichen Augen zu schauen, richtete er seinen Blick auf Pirards Stirn, »… da war mir ängstlich zumute. Der Herr Pfarrer Chélan hatte mir gesagt, es wimmele hier von Angebern und bösen Menschen, und Spioniererei und Verdächtigungen seien unter den Seminaristen gang und gäbe. Der Himmel wolle es so, um den angehenden Priestern das Leben zu zeigen, so wie es ist, und sie mit Abscheu vor dieser Welt und ihrem Gepränge zu erfüllen …«
»Wollen Sie mir eine Predigt halten, jugendlicher Schelm, Sie?« unterbrach ihn der Abbé zornig.
»In Verrières«, fuhr Julian kaltblütig fort, »schlugen mich meine Brüder, wenn sie irgendwie neidisch auf mich waren …«
»Zur Sache! Zur Sache!« rief Pirard fast außer sich.
Julian ließ sich nicht im geringsten einschüchtern. Er erzählte ruhig weiter.
»Es war am Tage meiner Ankunft hier in Besançon. Gegen Mittag bekam ich Hunger und ging in ein Kaffeehaus. Zwar empfand ich Widerwillen in mir, einen so profanen Ort zu betreten, aber ich dachte, mein Frühstück würde mich dort billiger kommen als im Gasthof. Eine Dame, wahrscheinlich die Besitzerin des Lokals, hatte Mitleid mit meiner Unerfahrenheit. › Besançon ist voll von schlechten Menschen ‹, sagte sie zu mir. ›Ich habe Angst um Sie. Wenn Ihnen etwas Mißliches zustoßen sollte, so wenden Sie sich nur an mich. Schicken Sie vor acht Uhr zu mir. Wenn sich der Pförtner im Seminar weigert, Ihren Auftrag zu übernehmen, so sagen Sie, Sie wären ein Vetter von mir und aus Genlis gebürtig … ‹«
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