Julian strengte sich an, zur Tür zu gehen. Es gelang ihm, ohne hinzusinken. Dabei bemerkte er, daß ein kleines Fenster neben der Tür hinaus ins Freie ging. Er sah Baumwipfel. Dieser Anblick tat ihm wohl, als grüßten ihn alte Freunde.
» Loquerisne linguam latinam? (zu deutsch: Sprichst du Lateinisch?)« fragte der Abbé, als Julian wieder vor ihm stand.
» Ita, pater optime! (Jawohl, ehrwürdiger Vater!)« antwortete Julian, nunmehr einigermaßen erholt. Noch nie in seinem Leben war ihm ein Mensch weniger ehrwürdig vorgekommen als der, vor dem er sich seit einer halben Stunde befand.
Die Unterhaltung setzte sich auf lateinisch fort. Die Augen des Direktors blickten Julian sichtlich sanfter an. Mehr und mehr gewann er seine Selbstbeherrschung wieder. »Ich bin doch gar kein Held«, sagte er sich, »wenn ich mich durch diesen Scheinheiligen ins Bockshorn jagen lasse! Er wird ganz genauso ein Spitzbub sein wie in Verrières der Abbé Maslon.« Jetzt freute sich Julian, daß er den größern Teil seiner Barschaft in seinen Stiefeln versteckt trug.
Pirard stellte mit ihm eine kurze theologische Prüfung an, wobei ihn Julians umfangreiche Kenntnisse überraschten. Seine Verwunderung steigerte sich, als er ihn über die Heilige Schrift befragte. Als er aber auf die Kirchenväter und ihre Dogmen zu sprechen kam, stellte er fest, daß Julian den heiligen Hieronymus, den heiligen Augustin, den heiligen Basilius und den heiligen Bonaventura kaum dem Namen nach kannte.
»Ja, ja«, dachte Pirard bei sich, »da haben wir wieder die verhängnisvolle Neigung zum Protestantismus, die ich Chélan immer vorgeworfen habe: eine gründliche, viel zu gründliche Kenntnis der Bibel!« Julian hatte nämlich, ohne danach gefragt zu sein, von der wissenschaftlichen Entstehungsgeschichte der Genesis, des Pentateuch usw. gesprochen. »Wohin führt dies ewige Deuteln an der Heiligen Schrift?« dachte Pirard weiter. »Zu nichts denn zum Selbstkult, zum ärgsten Protestantismus! Wenn diesem bedenklichen Wissen wenigstens kirchengeschichtliche und dogmatische Kenntnisse die Waagschale hielten!«
Den Höhepunkt aber erreichte des Direktors Erstaunen, als er Julian über die Autorität des Papstes examinierte. Er erwartete die Grundlehren der gallikanischen Kirche zu Gehör zu bekommen. Statt dessen sagte ihm der Prüfling das halbe Papstbuch von de Maistre her.
»Ein sonderbarer Kauz, dieser Chélan!« sagte sich der Abbé im stillen. »Hat er ihm dieses Buch in die Hände gegeben, um ihn zum Spötter hierüber zu machen?«
Die Fragen, die er stellte, um herauszubekommen, ob Julian wirklich an die Doktrin de Maistres glaubte, blieben erfolglos. Was der junge Mann gesagt, war offenbar nur gedächtnismäßig gewesen.
Julian war inzwischen wieder in den Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte gelangt. Er fühlte, daß er wieder Herr seiner selbst war. Als die langwierige Prüfung ihr Ende fand, hatte er den Eindruck, als sei die Strenge des Herrn Seminardirektors gegen ihn kaum mehr echt. In der Tat, hätte Pirard nicht seit fünfzehn Jahren seinen Schülern gegenüber höchste Gemessenheit als unbedingt nötig erachtet, so hätte er den Neuling im Namen der Logik an sein Herz gedrückt. Die Klarheit und Knappheit seiner Antworten hatten ihn entzückt.
»Ein gesunder und kühner Geist!« dachte er bei sich. »Allerdings: Corpus debile, (Leiblich schwach.)«
»Fallen Sie öfters so hin?« fragte er auf französisch und wies mit der Hand nach der Diele.
»Es war das erstemal in meinem Leben«, entgegnete Julian. »Ich war über das Gesicht des Pförtners so erschrocken.«
Der Abbé Pirard lächelte unmerklich.
»Aha! Die Suggestion des weltlichen Getues!« meinte er. »Sie sind an lachende Gesichter gewöhnt. Aber das sind Masken der Lüge. Die Wahrheit ist ernst, mein Lieber. Und ist unser Beruf hienieden nicht auch ernst? Sie müssen sich bemühen, jener Schwäche Herr zu werden. Sie sind zu empfänglich für das eitle Äußerliche!«
Im weiteren ging er mit sichtlichem Vergnügen abermals zu lateinischer Rede über. »Wenn Sie mir nicht durch einen Mann von der Art des Pfarrers Chélan empfohlen wären, würde ich mit Ihnen in der Sprache der profanen Menschheit sprechen, an die Sie allzusehr gewöhnt sind. Eine volle Freistelle im Seminar, die Sie haben möchten, wird nur höchst selten gewährt. Aber der Pfarrer Chélan, ein Mann, der sechsundfünfzig Jahre apostolischer Arbeit gewidmet hat, verfügt selbstverständlich über eine volle Freistelle.«
Sodann warnte der Abbé Pirard den nunmehrigen Seminaristen, ohne seine Genehmigung in eine Kongregation oder sonst welche geheime Gesellschaft einzutreten.
»Ich gebe Euer Hochehrwürden mein Ehrenwort«, versicherte Julian, in der Offenherzigkeit des Ehrenmannes.
Der Seminardirektor lächelte zum ersten Male deutlich.
»Ihr Ehrenwort? Das gibt es hier nicht«, sagte er. »Das ist etwas allzu Weltliches. Die selbstgefällige Ehre der Weltkinder führt zu so vielen Sünden und oft gar zu Verbrechen. Sie schulden mir Gehorsam nach Punkt 17 der päpstlichen Bulle Unam ecdesiam Seiner Heiligkeit Pius des Fünften. Ich bin Ihr geistlicher Vorgesetzter. In diesem Haus, mein Heber Sohn, ist Befehl und Gehorsam eins … Wieviel Geld besitzen Sie übrigens?«
»Aha!« dachte Julian. »Hab ich’s nicht gleich gesagt!« Laut erwiderte er: »Fünfunddreißig Franken, Euer Hochehrwürden!«
»Führen Sie genau Buch über Ihr Geld!« mahnte der Abbé. »Das ist Ihre Pflicht.«
Dieses hochnotpeinliche Verhör hatte insgesamt drei Stunden gedauert. Julian mußte schließlich den Pförtner holen.
»Führen Sie Julian Sorel nach Zelle 103!« befahl der Direktor dem Manne. Es war eine besondere Auszeichnung, eine Stube für sich allein zu bekommen. »Bringen Sie ihm auch seinen Koffer!«
Julian blickte verlegen zu Boden, just auf seinen kleinen Rucksack, der dort lag. In den eben vergangenen drei Stunden hatte er ihn gänzlich vergessen. Er war ihm etwas Fremdes geworden.
Als er in Nummer 103 ankam, einem Stübchen im obersten Stocke von kaum drei Meter im Geviert, bemerkte er, daß das Fenster nach dem Wall hinausging. Darüber hinweg blickte er in die lachende Ebene zwischen der Stadt und dem Doubs.
»Welch wunderschöne Aussicht!« rief Julian aus, doch ohne eigentlich zu empfinden, was er in diese Worte faßte. Die starken Eindrücke, die ihm in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Besançon zuteil geworden, hatten seine Kräfte erschöpft. Er setzte sich ans Fenster auf den einzigen Holzstuhl, der in der Zelle stand, und schlief alsbald fest ein.
Es läutete zum Abendessen. Dann zum Salus. Julian hörte es nicht. Niemand holte ihn.
Andern Tags, als ihn der erste Morgensonnenstrahl weckte, merkte er, daß er auf dem Fußboden lag.
Julian bürstete rasch seinen Rock ab und eilte hinunter. Er kam zu spät. Der Aufsichthabende fuhr ihn grob an. Anstatt sich zu entschuldigen, kreuzte Julian die Arme über der Brust und sagte in reuigem Tone: » Peccavi, pater optime!«
Sein derartiges erstes Auftreten machte großen Eindruck. Die Gescheiteren unter den Seminaristen merkten, daß sie es mit keinem Anfänger zu tun hatten. In der Erholungspause bildete Julian den Mittelpunkt der allgemeinen Neugier, aber er antwortete mit Zurückhaltung und Schweigen. Nach den Grundsätzen, die er sich aufgestellt hatte, betrachtete er seine dreihunderteinundzwanzig Kameraden als Feinde. Den allergefährlichsten aber sah er im Abbé Pirard.
Nach einigen Tagen mußte Julian seinen Beichtvater wählen. Man legte ihm eine Liste vor.
»Du mein Gott«, seufzte er, »für was hält man mich denn! Glaubt man, ich wüßte nicht, was das bedeutet?«
Er schrieb Pirard in die Liste. Ohne daß er es ahnte, beging er damit eine bedeutsame Tat. Ein kleiner, ganz junger Seminarist, der auch aus Verrières gebürtig war und ihm vom ersten Tage an Freundschaft bewiesen hatte, belehrte ihn, daß er wohl besser getan hätte, wenn er den Abbé Castanède, den Unterdirektor des Seminars, gewählt hätte.
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