»Willst du mir erlauben, daß ich hierbleibe und dich fortan liebe wie ein Bruder seine Schwester? Wäre das nicht die allervernünftigste Sühne? Das muß Gottes Grimm besänftigen!«
»Ich!« rief sie aus, indem sie abermals aufstand, Julians Kopf in ihre Hände nahm und ihn dicht vor ihre Augen hielt. »Ich soll dich wie einen Bruder lieben? Vermag ein Weib den Geliebten zu ihrem Bruder zu machen? Ich kann es nicht!«
Julian brach in Tränen aus.
»Ich werde dir gehorchen«, gelobte er und fiel ihr zu Füßen. »Ich werde gehorsam tun, was du mir auch befiehlst. Das ist alles, was ich noch tun kann. Mein Geist ist mit Blindheit geschlagen. Ich sehe nirgends einen Ausweg. Wenn ich dich verlasse, gestehst du deinem Manne alles. Dann bist du verloren und er auch. Nach dieser Blamage wird er niemals Abgeordneter. Bleibe ich aber, so hältst du mich für die Ursache, falls dein Kind stirbt. Und du stirbst vor Gram auch. Willst du erproben, wie es ist, wenn ich dich verlasse? Willst du, daß ich auf acht Tage fortgehe? Es soll eine Strafe meiner Sünde sein. Ich werde diese Zeit in der Abtei Hohen-Bray verbringen oder wo du willst. Aber schwöre mir, daß du während meiner Abwesenheit deinem Manne nichts eingestehst! Bedenke, daß ich dann nie wieder hierherkommen könnte!«
Frau von Rênal versprach es, und Julian reiste ab. Aber bereits nach zwei Tagen ward er zurückgerufen.
»Es ist mir unmöglich«, erklärte sie ihm, »meinen Eid zu halten, wenn du nicht immer bei mir bist. Wenn mir deine Augen nicht Stillschweigen gebieten, sag ich meinem Manne am Ende alles. Jede einzelne Stunde dieses abscheulichen Lebens kommt mir vor wie ein ganzer Tag.«
Endlich hatte der Himmel Erbarmen mit der unglücklichen Mutter. Bald war Stanislaus außer Gefahr. Aber damit war nicht alles beim alten. Frau von Rênal waren die Augen vor ihrer eigenen Sünde aufgegangen. Ihre innere Harmonie war dahin. Ihre Gewissensnot dauerte an; sie wuchs, wie das in einem so lauteren Gemüt nicht anders sein konnte. Ihr Dasein war Himmel und Hölle zugleich: Hölle, wenn sie Julian nicht sah, und Himmel, wenn sie zu seinen Füßen saß. Selbst in den Augenblicken, wo sie sich ganz in ihrer Leidenschaft verlor, sagte sie oft: »Ich mache mir keine Hoffnung mehr. Ich bin verdammt. Rettungslos verdammt. Du bist jung. Du hast meiner Verführung gewillfahrt. Dir kann der Himmel wohl verzeihen. Aber ich bin verloren. Ich erkenne das an einem untrüglichen Zeichen. Ich habe Angst. Wer hätte keine Angst, die Hölle vor Augen? Aber dabei empfinde ich keine Reue. Ich würde sündigen, wenn ich nicht schon gesündigt hätte! Wenn mich Gott nicht schon hienieden an meinen Kindern straft, so ist das mehr Gnade, als ich verdiene.« Und dann wiederum fragte sie: »Aber du, mein lieber Julian, bist du denn wenigstens glücklich? Sag, liebe ich dich genug?«
Angesichts eines so großen, nicht zu bezweifelnden Opfers, das ihm täglich und stündlich gebracht wurde, schmolzen Julians Mißtrauen und leidvoller Stolz, dem nichts gefehlt hatte als eine opfermütige Liebe. Er betete Frau von Rênal an: »Mag sie Aristokratin sein: mich, den Bauernjungen, mich liebt sie doch!« frohlockte er. »Ich bin ihr kein Kammerdiener, betraut mit der Rolle eines Liebhabers.« Seit er dieses Argwohns enthoben war, ergriff ihn echter Liebeswahnsinn mit allen seinen Zweifelsqualen.
Als sie sah, daß er an ihrer Liebe zweifelte, klagte sie: »Könnte ich dich doch in der Spanne Zeit, die uns beiden noch beschieden, ganz glücklich machen! Nützen wir die Frist aus! Vielleicht gehöre ich dir schon morgen nicht mehr. Straft mich der Himmel an meinen Kindern, so hätte ich nicht die Kraft, dir zuliebe weiterzuleben. Ich könnte den Gedanken nicht von mir abwehren, daß meine Sünde sie gemordet. Ich könnte diesen Schlag nicht überwinden. Selbst wenn ich wollte, könnte ich es nicht. Ich würde den Verstand verlieren.«
Ihre wilden inneren Kämpfe läuterten Julians Liebe. Sie war nicht mehr bloße Bewunderung ihrer Körperschönheit; sie wandelte sich in seelisches Siegesgefühl. Beider Glück war fortan höherer Art als zuvor. Die Glut, die sie verzehrte, ward immer heißer. Der tollste Liebesrausch ergriff sie. Man hätte sie für das glücklichste Paar halten können. Und doch, die sonnige Heiterkeit, die wolkenlose Seligkeit, der lachende Lebensmut der ersten Liebestage war dahin. Damals hatte Frau von Rênal nur die eine Angst gehabt: Julian könne sie nicht genug lieben. Jetzt hatte ihr Glück den Geschmack des Verbrechens. Selbst in den wonnigsten und friedsamsten Stunden drückte sie manchmal plötzlich die Hände des Geliebten, flüsternd: »Ich bin der Hölle verfallen. Welch schreckliches Los. Aber ich verdiene es.« Und sie schmiegte sich eng an ihn, wie Efeu an die Mauer.
Umsonst versuchte Julian ihr Seelenfieber zu kühlen. Dankbar zog sie seine Hand an sich und bedeckte sie mit Küssen. Dann sank sie wieder in düstere Versonnenheit. Bisweilen schien sie ruhiger zu werden. Wenigstens kam es Julian so vor. Sie versuchte sich zu beherrschen. Der Geliebte sollte nicht auch leiden.
In diesem Wechsel von Liebe, Reue und Sinnenlust flogen die Tage mit Windeseile dahin. Julian kam nicht mehr dazu, über alles nachzugrübeln, wie er das früher getan hatte.
Elise, die Jungfer der Frau von Rênal, wanderte öfters nach Verrières, wo sie in ihrer Erbschaftsangelegenheit einen kleinen Prozeß zu führen hatte. Einmal begegnete ihr Valenod, der nach wie vor schlecht auf Julian zu sprechen war. Sie haßte Sorel, und so äußerten sie einander ihren Groll.
»Ich darf Ihnen nicht alles sagen, Herr Valenod«, sagte sie unter anderm, »denn ich weiß, in wichtigen Dingen halten die Herrschaften immer zusammen. Es wäre mein Verderb. Gewisse Eröffnungen verzeiht man uns armen Dienstboten nie.«
Nach solch herkömmlichem Gerede, das Valenod voll Ungeduld und Neugierde rasch beiseite schob, kamen Dinge zutage, die den eitlen Mann empfindlich kränkten. Die weit und breit vornehmste Dame, der er sechs Jahre lang den Hof gemacht hatte, noch dazu dummerweise vor aller Welt, diese stolze Frau, vor deren sichtlicher Verachtung er sich so oft klein vorgekommen war, hatte einen als Hauslehrer verkleideten Bauernburschen zum Liebsten! Noch nicht genug des Hohnes: die Unnahbare betete diesen Menschen an!
Der Armenamtsvorstand geriet in die übelste Laune.
»Ja freilich«, erzählte das Mädchen seufzend weiter, »Herr Julian hat diese Eroberung gemacht ohne jede Mühe. Kalt, wie er ist, war er auch mit ihr.«
Elise war ihrer Sache erst sicher geworden, seit sie auf dem Lande wohnten, aber sie glaubte, das Verhältnis reiche weiter zurück.
»Jetzt weiß ich auch«, schloß sie ärgerlich, »warum er mich nicht hat heiraten wollen. Und ich Schaf habe die Gnädige auch noch um Rat gefragt und sie gebeten, mit ihm zu reden!«
Noch am selben Abend erhielt Herr von Rênal zugleich mit seiner Zeitung einen langen anonymen Brief, der ihn ausführlich davon unterrichtete, was in seinem Hause vorging. Julian beobachtete, wie er beim Lesen blaß wurde und ihm einen bösen Blick zuwarf.
Den ganzen Abend erholte sich der Bürgermeister nicht von seinem Schreck. Vergeblich hofierte ihn Julian, indem er das Gespräch auf die Genealogie der burgundischen Adelsfamilien brachte.
Als man um Mitternacht den Salon verließ, brachte es Julian zuwege, seiner Freundin zuzuraunen: »Wir wollen uns heute nacht nicht besuchen. Dein Mann hat Verdacht geschöpft. Ich möchte darauf schwören: das Schriftstück, das er heute unter Stöhnen gelesen hat, ist ein anonymer Brief!«
Es war beider Glück, daß er sich in sein Zimmer einriegelte. Frau von Rênal bildete sich wahnwitzigerweise ein, Julians Warnung sei nur ein Vorwand, ihren Besuch abzuwehren. Sie verlor vollständig den Kopf und schlich sich zur gewohnten Stunde an seine Tür. Als er Geräusch auf dem Gange hörte, löschte er rasch seine Lampe aus. Er hörte, wie man sich draußen bemühte, die Tür zu öffnen. War das die Geliebte oder ihr eifersüchtig gewordener Gatte?
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