Nach einer Viertelstunde der Rührung nahm er wahr, daß die Kugeln bis in die Baumreihe schlugen, in deren Dunkel er grübelnd saß. Er erhob sich und suchte sich zurecht zu finden. Er betrachtete sich den Wiesenplan, der von einem breiten Graben und einer Reihe buschiger Weiden begrenzt war. Das kam ihm bekannt vor. Eine Infanteriemasse ging durch den Graben und betrat die Wiesen, tausend Schritt von ihm entfernt.
›Ich wäre beinahe eingeschlafen‹, sagte er zu sich. ›Ich darf mich nicht gefangen nehmen lassen.‹ Er begann tüchtig loszumarschieren. Beim Näherkommen beruhigte er sich. Er erkannte die Uniform; die Regimenter, von denen er gefürchtet hatte, abgeschnitten zu werden, waren französische. Er bog nach rechts ab, um zu ihnen zu gelangen.
Zu dem seelischen Schmerz darüber, daß er so schimpflich verraten und bestohlen worden war, gesellte sich ein anderer, der sich mit jedem Augenblick mehr fühlbar machte: er kam vor Hunger um. Darum war er höchst erfreut, als er nach zehn Minuten Marsch oder, besser, Laufschritt bemerkte, daß die Infanteriemasse, die auch sehr flott vorgerückt war, Halt machte, vermutlich, um sich zu entwickeln. Wenige Minuten später war er mitten unter den nächsten Soldaten.
»Kameraden, könnt ihr mir nicht ein Stück Brot verkaufen?«
»Das dumme Luder hält uns für Bäcker!«
Dieses grobe Wort und das allgemeine Hohngelächter, das darauf folgte, gaben Fabrizzio den Rest. Der Krieg war also nicht mehr jener edle allgemeine Aufschwung ruhmliebender Seelen, wie er sich nach den Aufrufen Napoleons eingebildet hatte! Er setzte sich, oder vielmehr, er sank auf den Rasen nieder. Er ward totenbleich. Der Soldat, der mit ihm gesprochen hatte und der stehen geblieben war, um sein Gewehrschloß mit dem Sacktuch abzuwischen, kam heran und warf ihm ein Stück Brot zu. Als er sah, daß jener es nicht aufhob, steckte er ihm ein Stück davon in den Mund. Fabrizzio schlug die Augen auf und aß das Brot, hatte aber nicht die Kraft, etwas zu sagen. Und als er den Soldaten mit den Augen suchte, um ihn zu bezahlen, sah er sich allein. Die nächsten Soldaten waren bereits hundert Schritt weit im Vormarsch. Mechanisch erhob er sich und folgte ihnen.
Er trat in ein Gehölz, nahe daran, vor Ermattung umzufallen, und suchte schon mit dem Auge einen geeigneten Fleck. Wie groß war da seine Freude, als er erst das Pferd, dann das Wägelchen und schließlich die Marketenderin vom Vormittag wiedererkannte! Sie eilte auf ihn zu und war erschrocken über sein Aussehen.
»Komm nur mit, mein Jungchen!« sagte sie zu ihm.
»Du bist wohl verwundet? Und dein schönes Pferd …?«
Mit diesen Worten führte sie ihn an ihren Wagen, ließ ihn hinaufklettern und stützte ihn dabei unter dem Arm. Kaum im Wagen, fiel unser Held, von Müdigkeit überwältigt, in tiefen Schlaf.
Nichts vermochte ihn zu wecken, weder das Gewehrfeuer, das den kleinen Wagen umknatterte, noch das Traben des Pferdchens, das die Marketenderin mit der Peitsche antrieb. Das Regiment war unversehens von preußischen Kavallerieschwärmen angegriffen worden, nachdem es den ganzen Tag über an den Sieg geglaubt hatte. Jetzt ging es zurück, oder vielmehr: es floh in der Richtung auf die französische Grenze.
Der Oberst, ein schöner junger Dandy, der unlängst das Regiment von Macon übernommen hatte, wurde niedergesäbelt. Einer der Bataillonskommandeure, der an seine Stelle trat, ein alter Krieger mit weißem Haar, ließ das Regiment Halt machen.
»Zum Teufel!« schrie er den Soldaten zu. »Zu Zeiten der Republik wartete man mit dem Auskneifen, bis einen der Feind dazu zwang. Jeden Zollbreit Erde müßt ihr verteidigen! Und wenn ihr totgeschossen werdet!« fluchte er. »Euer Vaterland ists, das die Preußen besetzen wollen!«
Das Wägelchen hielt, und Fabrizzio wachte plötzlich auf. Die Sonne war schon lange untergegangen. Er war ganz verdutzt, als er sah, daß es beinahe Nacht geworden war. Die Soldaten hasteten zu beiden Seiten in wirrer Unordnung dahin. Unserem Helden kam das seltsam vor. Sie sahen ihm alle recht kläglich aus.
»Was ist denn los?« fragte er die Marketenderin.
»Nichts. Wir sind die Gepritschten, mein Jungchen! Die preußische Kavallerie verhaut uns, weiter nichts. Der Esel von einem General hat erst geglaubt, es sei unsere eigene. – Los, komm! Hilf mir mal den Strang von Kokotte zusammenbinden! Er ist gerissen.«
Zehn Schritt weit fielen ein paar Schüsse. Unser Held, wieder frisch und kampflustig, meinte bei sich: ›Eigentlich bin ich den ganzen Tag über gar nicht ins Gefecht gekommen; ich war nur im Gefolge eines Generals.‹
»Ich muß ins Feuer!« sagte er laut zur Marketenderin.
»Beruhige dich! Du kommst schon noch ins Feuer, und mehr, als du willst! Wir sind futsch! – Aubry, mein Junge,« rief sie einem Korporal zu, der vorbeimarschierte, »vergiß nicht, dich ab und zu nach meinem Karren umzugucken!«
»Gehen Sie ins Gefecht?« fragte Fabrizzio den Unteroffizier.
»Nee, nur auf den Tanzboden!«
»Ich komme mit!«
»Den kleinen Husaren kann ich dir empfehlen. Der Bursche hat Mut!« rief die Marketenderin.
Der Korporal Aubry schritt stumm seines Wegs. Acht bis zehn Soldaten stießen in eiligem Lauf zu ihm. Er führte sie hinter eine mächtige Eiche, die von Brombeersträuchern umgeben war. Dort angekommen, stellte er sie längs des Waldrandes auf, immer noch, ohne einen Ton zu reden, in weiten Abständen, mindestens zehn Schritt voneinander entfernt.
»Nun paßt mal auf!« sagte er dann, und das war das erste, was er sprach. »Gebt nicht eher Feuer, als bis ichs befehle. Denkt daran, daß jeder nur drei Patronen hat!«
›Was geht denn eigentlich vor?‹ fragte sich Fabrizzio. Als er schließlich allein mit dem Korporal dastand, sagte er zu ihm: »Ich hab kein Gewehr!«
»Zunächst halts Maul! Lauf ein Stück vor! Da, fünfzig Schritt vor dem Gehölz, findest du welche bei den armen Kerlen des Regiments, die vorhin niedergehauen worden sind. Nimm dir Flinte und Patronentasche, aber von keinem Verwundeten, und flink, sonst kriegst du Feuer von unseren eigenen Leuten!«
Fabrizzio lief hin und kam alsbald mit einem Gewehr und einer Patronentasche zurück.
»Lade dein Gewehr und stell dich dort hinter den Baum! Vor allem schießt du nicht eher, als ichs befehle. – Herr, du mein Gott! Er kann nicht mal laden!«
Er half Fabrizzio, indem er dabei seine Unterweisung fortsetzte: »Wenn ein feindlicher Reiter auf dich losgaloppiert kommt und dich niedersäbeln will, so krauchst du hinter deinen Baum und gibst deinen Schuß erst ab, wenn dein Reiter auf drei Schritt an dich heran ist. Dein Bajonett muß fast schon an seinen Rock stoßen. – Schmeiß doch deinen langen Säbel weg!« schrie er. »Willst du drüber stolpern? Weiß der Teufel, was für Soldaten wir jetzt haben!«
Bei diesen Worten nahm er ihm den Säbel eigenhändig ab und schleuderte ihn wütend weit fort.
»Du, wische mal den Zündstein mit dem Taschentuch ab! Hast du überhaupt in deinem Leben schon einmal ein Gewehr abgefeuert?«
»Ich bin Jäger.«
»Gott sei gelobt!« entgegnete der Korporal mit einem schweren Seufzer. »Vor allem schieße nicht, ehe ichs befehle!« Damit ging er.
Fabrizzio war außer sich vor Freude. ›Endlich komme ich richtig ins Gefecht!‹ sagte er sich. ›Werde einen Feind töten! Heute morgen haben sie uns beschossen, aber ich habe nichts getan, als mich nur den Kugeln ausgesetzt. Das kann jeder!‹ Er spähte mit gespannter Neugier nach allen Richtungen. Nach einer Weile hörte er sieben bis acht Gewehrschüsse in seiner nächsten Nähe. Aber da er keinen Befehl zum Schießen bekam, blieb er ruhig hinter seinem Baum. Es war beinahe Nacht. Er kam sich vor, als wäre er auf dem Anstand, auf der Bärenjagd, in den Bergen der Tremezzina oberhalb von Grianta. Ein Jägereinfall kam ihm. Er holte eine Patrone aus seiner Patronentasche und brach die Kugel heraus. ›Wenn ich etwas sehe, muß ich es treffen!‹ Und er ließ diese zweite Kugel in den Gewehrlauf gleiten. Wiederum fielen zwei Schüsse dicht neben seinem Baum; gleichzeitig sah er einen Reiter in blauem Rock vor sich von rechts nach links galoppieren. ›Drei Schritt sind das nicht,‹ sagte er bei sich, ›aber auf diese Entfernung bin ich meines Schusses sicher.‹ Er verfolgte den Reiter mit der Mündung seines Gewehres und drückte schließlich ab. Der Reiter fiel samt seinem Pferd. Unser Held wähnte sich auf der Jagd. Voller Freude rannte er nach dem soeben erlegten Stück Wild. Schon wollte er den Mann anfassen, der offenbar im Sterben lag, als in unglaublicher Schnelle zwei preußische Reiter anritten, um ihn niederzusäbeln. Fabrizzio rettete sich, so schnell ihn seine Beine trugen, nach dem Gehölz; um besser laufen zu können, warf er sein Gewehr weg. Die preußischen Reiter waren keine drei Schritt mehr von ihm, als er in eine junge Eichenschonung gelangte, die sich vor dem Hochwald hinzog. Von den armhohen Bäumchen wurden die Reiter einen Augenblick aufgehalten, dann brachen sie durch und verfolgten Fabrizzio über eine Lichtung. Wiederum waren sie nahe daran, ihn zu fassen, als er eine Gruppe von sieben bis acht dicken Bäumen erreichte. In diesem Augenblick streiften ihn fünf oder sechs Schüsse so nahe, daß ihm fast das Gesicht verbrannt wurde. Er duckte sich nieder; als er sich wieder aufrichtete, stand der Korporal vor ihm.
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