»Geben Sie mir, was noch in der Flasche ist!« sagte er zu der Marketenderin.
»Hör mal,« entgegnete sie, »der Rest kostet an einem Tage wie heute zehn Franken!«
Als er wieder bei der Eskorte angaloppiert kam, rief der Wachtmeister: »Ach so, du bringst uns was für die Kehle! Darum bist du ausgerissen. Her mit dem Zeug!«
Die Flasche machte die Runde. Der letzte, der sie bekam, warf sie hoch in die Luft, nachdem er sie ausgetrunken hatte.
»Danke, Kamerad!« rief er Fabrizzio zu. Aller Augen verweilten mit Wohlgefallen auf ihm. Diese Blicke nahmen ihm eine Zentnerlast vom Herzen. Er war eine jener zu zart beschaffenen Seelen, die der Freundschaft ihrer Umgebung bedürfen. Endlich wurde er von seinen Kameraden nicht mehr scheel angesehen; etwas verband sie und ihn. Fabrizzio atmete tief auf; dann redete er den Wachtmeister freimütig an: »Wenn der Rittmeister Teulier gefallen ist, wo könnte ich da meine Schwester treffen?«
Er hielt sich für einen kleinen Machiavell, da er so schön Teulier statt Meunier sagen konnte.
»Das wird sich heute abend finden!« brummte der Wachtmeister.
Der Stab brach wieder auf und wandte sich gegen Infanteriemassen. Fabrizzio merkte, daß er berauscht war; er hatte zuviel Branntwein getrunken. Er schwankte ein wenig im Sattel. Glücklicherweise kam ihm eine Regel ins Gedächtnis, die der Kutscher seiner Mutter zu predigen pflegte: Wenn man zuviel hinter die Binde gegossen hat, muß man zwischen den Ohren seines Gaules hindurchsehen und alles tun, was der Nebenmann tut. Der Marschall blieb geraume Zeit bei verschiedenen Kavallerieabteilungen, die er angreifen ließ; aber eine oder zwei Stunden lang hatte unser Held kein Bewußtsein dessen, was ringsum geschah. Er fühlte sich todmüde, und beim Galoppieren fiel er wie ein Stück Blei in den Sattel.
Plötzlich rief der Wachtmeister seinen Leuten zu: »Seht ihr nicht den Kaiser, Kerls?«
Unverzüglich brüllte der ganze Stab aus voller Kehle: »Vive l’empereur!«
Man kann sich denken, wie unser Held die Augen aufriß, aber er sah nichts als vorbeigaloppierende Generale, denen ebenso ein Stab von Reitern folgte. Die langen, wehenden Roßhaarschweife, die die Dragoner des Gefolges auf ihren Helmen trugen, hinderten ihn, die einzelnen Gestalten zu erkennen. ›So habe ich den Kaiser auf dem Schlachtfeld nicht sehen können wegen dieser verfluchten Schnapstrinkerei!‹ Diese Betrachtung machte ihn wieder gänzlich munter.
Man ritt abermals in einen Hohlweg voll Wasser hinab; die Pferde wollten saufen.
»Das war also der Kaiser, der vorhin vorüberritt?« fragte er seinen Nebenmann.
»Na gewiß, der, der keine Litzen am Rock hatte! Hast du ihn denn nicht gesehen?« meinte der Husar gutmütig.
Fabrizzio hatte große Lust, dem Stabe des Kaisers nachzugaloppieren und sich ihm anzuschließen. ›Welch großes Glück, den Krieg im Gefolge dieses Helden wirklich mitzumachen!‹ Darum war er ja nach Frankreich gekommen. ›Ich bin ganz mein eigener Herr,‹ sagte er sich, ›denn an den Dienst, den ich jetzt tue, bindet mich nichts als eine Laune meines Gaules, der just diesen Generalen nachgerannt ist.‹
Was Fabrizzio zu bleiben bestimmte, war der Umstand, daß die Husaren, seine neuen Kameraden, zu ihm freundlich waren. Er begann, sich für den Busenfreund all der Soldaten zu halten, mit denen er seit etlichen Stunden umherritt. Er sah zwischen ihnen und sich jene edle Freundschaft der Helden Tassos und Ariosts untereinander. Wenn er sich zum Stabe des Kaisers schlug, mußte er sich neue Kameradschaft erwerben; vielleicht würde man ihn gar scheel ansehen, denn jene Reiter wären lauter Dragoner, während er Husarenuniform trug, wie alle Reiter im Gefolge des Marschalls. Die Art, wie man ihn jetzt ansah, machte unseren Helden überglücklich. Alles auf der Welt hätte er für seine Kameraden getan; seine Seele, sein Geist schwebten in höheren Regionen. Alles kam ihm anders vor, seit er bei Freunden war. Für sein Leben gern hätte er Fragen gestellt. ›Aber ich bin noch ein wenig betrunken‹, sagte er sich. ›Ich darf die Ratschläge der Kerkermeisterin nicht vergessen.‹
Als der Stab wieder aus dem Hohlweg herauskam, bemerkte er, daß der Marschall Ney nicht mehr da war. Der General an der Spitze des Trupps war groß, hager, von kaltem Gesichtsausdruck und strengem Blick. Dieser General war kein anderer als der Graf von A., jener Leutnant Robert vom 15. Mai 1796. Wie glücklich wäre er gewesen, wenn er um die Anwesenheit von Fabrizzio del Dongo gewußt hätte.
Schon lange hatte Fabrizzio die Erde nicht mehr in kleinen schwarzen Klumpen unter den aufschlagenden Geschossen aufspritzen sehen. Jetzt kam man hinter ein Kürassierregiment. Deutlich hörte er Kartätschenkugeln an die Kürasse schlagen und sah mehrere Reiter fallen. Die Sonne stand schon sehr tief und ging zur Rüste, als der Stab aus einem Hohlweg herauskam und einen kleinen drei bis vier Fuß hohen Abhang hinaufritt, um auf einen Acker zu gelangen. Da hörte Fabrizzio ganz dicht neben sich ein sonderbares schwaches Geräusch. Er wandte sich um. Vier Reiter waren mit ihren Pferden gefallen; auch der General war umgerissen worden, raffte sich aber wieder auf, ganz mit Blut bedeckt. Fabrizzio warf einen Blick auf die zu Boden geschmetterten Husaren. Drei machten noch ein paar krampfhafte Bewegungen; der vierte schrie: »Hebt mich auf!«
Der Wachtmeister und zwei oder drei Mann waren abgesprungen und eilten dem General zu Hilfe, der, von seinem Adjutanten gestützt, einige Schritte zu gehen versuchte, um aus der Nähe seines Pferdes zu kommen, das sich rücklings auf dem Boden wälzte und mit den Hufen wild um sich schlug.
Der Wachtmeister kam auf Fabrizzio zu. Unser Held hörte, wie er hinter seinem Rücken in nächster Nähe sagte: »Der Gaul hier ist der einzige, der noch Galopp geht!«
Er fühlte sich an den Beinen gepackt. Indem man ihm den Körper unter den Armen stützte, hob man ihn hoch und zog ihn über die Kruppe seines Pferdes herunter. Dann ließ man ihn zu Boden gleiten, wo er sitzen blieb.
Der Adjutant ergriff Fabrizzios Pferd am Zügel. Der General saß unter Beihilfe des Wachtmeisters auf und ritt im Galopp weiter. Die übrigen sechs Reiter folgten ihm eiligst.
Fabrizzio sprang wütend auf und rannte ihnen nach mit dem lauten Ruf: »Ladri! Ladri!« (Räuber! Räuber!) Eine komische Sache, mitten auf einem Schlachtfeld Räubern nachzulaufen.
Bald war der Stab mit dem General hinter einer Weidenreihe verschwunden. Fabrizzio kam wutschnaubend ebenfalls an eine Baumreihe; er sah sich vor einem sehr tiefen Graben, über den er hinwegsetzte. Auf der anderen Seite fing er von neuem an zu fluchen, als er, freilich in sehr weiter Entfernung, den General und den Stab nochmals erblickte, bis sie hinter Baumgruppen verschwanden.
»Räuber! Räuber!« rief er wieder, jetzt auf französisch. Verzweifelt, weniger über den Verlust seines Pferdes als über den Verrat, sank er am Grabenrand nieder, müde und halb verhungert. Wenn ihm sein schönes Pferd vom Feind genommen worden wäre, würde er sich keine Gedanken darüber gemacht haben, aber sich beraubt zu sehen von diesem Wachtmeister, den er so geliebt hatte, und von diesen Husaren, die er gleich Brüdern geachtet, das brach ihm das Herz! Er konnte über so viel Niedertracht nicht hinwegkommen, und den Rücken an eine Weide gelehnt, begann er bitterlich zu weinen. Nacheinander nahm er Abschied von all den schönen Träumen von ritterlicher und erhabener Freundschaft, wie sie die Helden des ›Befreiten Jerusalems‹ übten. Dem Tod in das Auge zu sehen, war nichts, wenn man von heldenmütigen und gefühlsfähigen Seelen umgeben ist, von edlen Freunden, die einem beim letzten Atemzug die Hand drücken. Aber wie konnte er seine Begeisterung bewahren inmitten gemeiner Spitzbuben? Fabrizzio übertrieb wie jeder empörte Mensch.
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