Mit weiblicher Neugier kam die Marketenderin immer wieder darauf zurück, wie man ihm das schöne Pferd abgenommen hatte, das sie ihm hatte kaufen helfen: »Du merktest, wie man dich an den Beinen packte, dich sacht über die Kruppe des Pferdes herunterzog und dich auf den Boden setzte …«
›Wozu so oft wiederholen,‹ sagte Fabrizzio bei sich, ›was wir alle drei längst wissen ?‹
Er wußte noch nicht, daß die kleinen Leute in Frankreich sich auf diese Weise auf Gedanken bringen.
»Wieviel Geld hast du?« fragte ihn die Marketenderin plötzlich. Fabrizzio antwortete ihr ohne Verzug. Er war der anständigen Gesinnung dieser Frau sicher; das ist eine schöne Seite an den Franzosen.
»Alles in allem muß ich noch dreißig Napoleons in Gold und acht bis zehn Fünffrankenstücke haben.«
»Dann hast du gewonnenes Spiel!« rief die Marketenderin. »Mache dich fort von dieser geschlagenen Armee, drücke dich beiseite und nimm den ersten besten reitbaren Weg rechts ab. Gib deinem Gaul die Zinken und suche immer mehr vom Heer abzukommen. Bei der ersten Gelegenheit kaufst du dir Zivil. Wenn du acht bis zehn Meilen Vorsprung hast und keine Soldaten mehr siehst, setzt du dich in die Post. In irgendeiner netten Stadt erholst du dich acht Tage lang und ißt ordentlich Beefsteaks. Erzähle keinem Menschen, daß du bei der Armee gewesen bist. Die Gendarmen könnten dich als Fahnenflüchtigen festnehmen, denn so gescheit du sein magst, Kleiner, um einem Gendarmen Rede zu stehen, bist du nicht gerissen genug. Sobald du Zivilkleider auf dem Buckel hast, zerfetzt du dein Soldbuch in tausend Stücke und nimmst deinen wirklichen Namen wieder an. Hießest du nicht Vasi? Und«, fragte sie den Korporal, »was soll er sagen, woher er käme?«
»Von Cambrai an der Schelde. Das ist eine nette kleine Stadt, weißt du, von wegen der Kathedrale und Fénelon.«
»Ganz recht!« sagte die Marketenderin. »Sage keinem Menschen, daß du in der Schlacht gewesen bist. Erwähne kein Sterbenswörtchen, weder von B. noch vom Kerkermeister, der dir das Soldbuch verkauft hat. Wenn du nach Paris willst, so gehe erst nach Versailles und bummle von dort über die Stadtgrenze; geh zu Fuß wie ein Spaziergänger. Deine Napoleons nähst du dir in die Hose ein, und wenn du irgend etwas zu bezahlen hast, so zeige nie mehr Geld, als gerade nötig ist. Ich habe eine Mordsangst, daß man dich begaunert und dir alles wegstibitzt, was du hast. Und was sollte dann ohne Geld aus dir werden, wo du dich so gar nicht zurechtzufinden verstehst?«
Die gutmütige Marketenderin redete noch lange weiter; der Korporal unterstützte ihre Ratschläge durch Kopfnicken, da er nicht zu Worte kommen konnte. Mit einem Male verdoppelte die Menschenmasse, die auf der großen Straße hinflutete, ihre Marschgeschwindigkeit. Einen Augenblick später sprang alles über den Straßengraben zur Linken und rannte in wilder Flucht davon.
»Die Kosaken! Die Kosaken!« schrie es von allen Seiten.
»Nimm dein Pferd wieder!« rief die Marketenderin. »Gottbewahre!« sagte Fabrizzio. »Fliehen Sie! Galoppieren Sie davon! Ich gebe es ihnen! Wollen Sie Geld, damit Sie sich wieder einen kleinen Wagen kaufen können? Die Hälfte von dem, was ich habe, gehört Ihnen!«
»Nimm dein Pferd wieder, sag ich dir!« rief die Marketenderin zornig und machte Miene, abzusitzen. Fabrizzio zog seinen Säbel.
»Halten Sie sich fest!« rief er ihr zu und versetzte dem Pferd zwei oder drei Hiebe mit der flachen Klinge. Es galoppierte an und setzte den Flüchtenden nach.
Unser Held sah sich um. Eben noch hatten sich drei-bis viertausend Menschen auf der Heerstraße hingedrängt, eng aneinandergepfercht wie die Bauern hinter einer Prozession. Nach dem Rufe ›Die Kosaken!‹ erblickte er tatsächlich keine Menschenseele mehr. Die Fliehenden hatten Tschakos, Gewehre, Säbel und alles hingeworfen. Verwundert stieg Fabrizzio auf den Acker rechts der Straße, der zwanzig bis dreißig Fuß höher gelegen war. Dort überblickte er die Heerstraße nach beiden Seiten hin, ebenso die Ebene. Von Kosaken keine Spur. ›Drollige Leute, diese Franzosen!‹ sagte er sich. ›Da ich ja nach rechts abbiegen soll, werde ich gleich weitermarschieren. Möglicherweise haben sie einen Grund zum Weglaufen, den ich nicht kenne.‹ Er hob ein Gewehr auf, sah nach, ob es geladen sei, schüttete das Zündpulver um, wischte den Stein ab, suchte sich eine wohlgefüllte Patronentasche und sah sich nochmals nach allen Seiten um. Er war mutterseelenallein mitten in dieser Ebene, wo es eben noch so von Menschen gewimmelt hatte. Weit in der Ferne sah er die Fliehenden, die bald hinter Bäumen verschwanden, immer noch im Laufen. ›Das ist doch sonderbar!‹ dachte er. Und in Erinnerung daran, wie es der Korporal gestern abend gemacht hatte, setzte er sich mitten in ein Kornfeld. Er ging nicht von der Stelle, weil er seine guten Freunde wiedertreffen wollte, die Marketenderin und den Korporal Aubry.
In dem Kornfeld stellte er fest, daß er nur noch achtzehn Napoleons besaß statt dreißig, wie er gedacht hatte; aber er hatte noch ein paar kleine Brillanten, die er an jenem Morgen in B. in der Stube der Kerkermeistersfrau in das Lederfutter eines seiner Husarenstiefel gesteckt hatte. Er verbarg seine Napoleons, so gut er konnte, und geriet dabei in Grübelei: ›Warum die hastige Flucht? Ist das ein schlechtes Zeichen für mich?‹ fragte er sich. Sein Hauptkummer war, daß er den Korporal Aubry nicht noch gefragt hatte: ›Habe ich wirklich eine Schlacht mitgemacht?‹ Es schien ihm ganz so, aber er wäre überglücklich gewesen, wenn er darüber Gewißheit gehabt hätte.
›Auf alle Fälle‹, sagte er sich, ›war ich dabei unter dem Namen eines Häftlings. Ich habe das Soldbuch eines solchen in meiner Tasche, und mehr noch, ich trage seinen Rock. Das ist verhängnisvoll für die Zukunft. Was würde der Abbate Blanio dazu sagen? Und dieser unselige Boulot ist im Gefängnis gestorben. Das ist ein schlimmes Vorzeichen! Das Schicksal wird mich in den Kerker führen!‹
Fabrizzio hätte alles in der Welt darum gegeben, wenn er gewußt hätte, ob der Husar Boulot wirklich schuldig war. Er versenkte sich in seine Erinnerungen, und es kam ihm vor, als hätte die Kerkermeistersfrau in B. ihm erzählt, der Husar sei nicht nur wegen des silbernen Bestecks eingelocht worden, sondern auch, weil er einem Bauern eine Kuh geraubt und den Mann über die Maßen verprügelt hatte. Fabrizzio zweifelte nicht daran, daß er eines Tages eines Vergehens wegen, das in gewissen Beziehungen zu dem des Husaren Boulot stünde, ins Gefängnis käme. Er gedachte seines Freundes, des Abbaten Blanio. Was hätte er darum gegeben, wenn er ihn hätte um Rat fragen können! Dann fiel ihm ein, daß er seiner Tante, seit er Paris verlassen, nicht geschrieben hatte. ›Arme Gina!‹ sagte er sich. Er hatte Tränen in den Augen, als er plötzlich dicht neben sich ein leises Geräusch wahrnahm. Es war ein Soldat mit drei Pferden, die an langen Zügeln im Korn grasten; sie waren sichtlich halbtot vor Hunger. Er hielt sie an den Trensen. Fabrizzio flog auf wie ein Rebhuhn. Der Soldat bekam Angst. Unser Held bemerkte das und konnte der Lust nicht widerstehen, eine Weile den Landsknecht zu spielen.
»Einer der Gäule gehört mir, du Gauner!« rief er. »Aber ich will dir gern fünf Franken geben für die Mühe, daß du mir ihn hergebracht hast.«
»Willst du mich uzen?« sagte der Soldat.
Fabrizzio legte sein Gewehr auf sechs Schritt Entfernung an:
»Laß das Pferd los, oder ich schieße!«
Der Soldat hatte sein Gewehr am Riemen über der Schulter und machte einen Ruck, um es zu fassen.
»Wenn du dich im geringsten rührst, bist du des Todes!« schrie Fabrizzio und sprang auf ihn zu.
»Meinetwegen, geben Sie mir fünf Franken und nehmen Sie sich eins der Pferde«, sagte der Soldat verwirrt, nachdem er einen sehnsüchtigen Blick nach der Heerstraße geworfen hatte, wo weit und breit kein Mensch zu sehen war. Fabrizzio hielt sein Gewehr mit der Linken schußbereit und warf ihm mit der Rechten drei Fünffrankenstücke zu.
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