Gleichwohl hatte ich noch so viel gesunden Verstand, daß ich mich nicht allzu lange in Komplimenten bewegte. Während ich ein paar Redensarten drechselte, gewahrte ich in dem marmorgetäfelten Speisesaal ein Dutzend Lakaien und Kammerdiener, deren Livree mich damals der Inbegriff von Prachtentfaltung dünkte. Stellen Sie sich vor, diese Schlingel hatten nicht nur anständige Schuhe, sondern sogar noch silberne Schnallen darauf. Bei einem Seitenblick merkte ich, daß ihre dummen Augen alle auf meinen Rock und wohl gar auf meine Schuhe gerichtet waren. Das gab mir einen Stich ins Herz. Mit einem einzigen Wort hätte ich die ganze Bande zu Paaren treiben können; wie aber hätte ich das anfangen sollen, ohne die Damen zu erschrecken? Die Marchesa hatte nämlich, um sich ein wenig Mut zu machen, die Schwester ihres Mannes, Gina del Dongo, die nachmalige reizende Contessa di Pietranera, aus dem Kloster, wo sie erzogen wurde, zu sich berufen. Sie hat es mir später oft erzählt. Im Glück übertraf sie niemand an heiterem Sinn und liebenswürdigem Witz, wie ihr auch niemand an Mut und Seelenruhe im Unglück gleichkam.
Gina, die damals dreizehn Jahre alt sein mochte, aber wie achtzehnjährig aussah, lebhaft und freimütig, wie Sie wissen, hatte so große Furcht, beim Anblick meines Aufzuges herauszuplatzen, daß sie sich kaum zu essen getraute. Dafür überhäufte mich die Marchesa mit gezwungenen Höflichkeiten. Sie las mir meinen Unwillen von den Augen ab. Mit einem Wort: ich spielte eine alberne Rolle. Ich schluckte die Geringschätzung hinunter, was bekanntlich einem Franzosen unmöglich sein soll. Endlich gab mir der Himmel einen lichten Gedanken ein. Ich fing an, den Damen zu berichten, was wir in den Genueser Bergen ausgestanden hatten, wo uns altersschwache Generale zwei Jahre hatten sitzen lassen. Dort, so erzählte ich, gab man uns die Löhnung in Assignaten, die im Land keinen Kurs hatten, und neunzig Gramm Brot den Tag. Ich hatte keine zwei Minuten gesprochen, da standen der guten Marchesa die Tränen in den Augen, und Gina war ernst geworden.
›Wie, Herr Leutnant,‹ sagte sie, ›neunzig Gramm Brot?‹ ›Gewiß, Signorina. Dabei blieben diese Portionen dreimal in der Woche ganz aus, und da die armen Gebirgsbewohner, bei denen wir im Quartier lagen, noch weniger zu beißen hatten als wir, so haben wir ihnen auch noch ein wenig von unserem Brot abgegeben.‹
Als wir vom Tisch aufstanden, bot ich der Marchesa meinen Arm und führte sie bis an die Tür des Salons, kehrte dann schnell um und gab dem Lakaien, der mich bei der Tafel bedient hatte, mein einziges Sechsfrankenstück, mit dem ich mir tausend Luftschlösser erbaut hatte.
Acht Tage später, nachdem man sich sattsam überzeugt hatte, daß wir Franzosen niemanden köpften, kehrte der Marchese del Dongo aus seinem Schloß Grianta am Comer See zurück, wohin er sich beim Anrücken unserer Armee geflüchtet hatte, seine junge, schöne Gemahlin und seine Schwester den Wechselfällen des Krieges preisgebend. Der Haß dieses Edelmannes gegen uns war nur mit seiner Furcht zu vergleichen, das heißt, beide waren grenzenlos. Es war ein spaßiger Anblick, wenn er mir mit seinem aufgedunsenen, bleichen Höflingsgesicht Artigkeiten sagte. Am Tage nach seiner Rückkehr nach Mailand erhielt ich drei Ellen Uniformtuch und zweihundert Franken, meinen Anteil an den sechs Millionen Kriegssteuern. Ich stattete mich neu aus und ward der Ritter jener Damen, denn die Bälle begannen.«
Die Geschichte des Leutnants Robert war so ziemlich die aller Franzosen. Statt über ihr Elend zu spötteln, bemitleidete man diese tapferen Krieger und gewann sie lieb. Diese Epoche unerwarteten Heils und toller Freude dauerte knapp drei Jahre, aber der Rausch war so stark und allgemein, daß man sich kaum eine richtige Vorstellung davon machen kann; nur die tiefsinnige historische Betrachtung erklärt sie: dies Volk langweilte sich seit einem Jahrhundert.
Die natürliche Sinnenlust des Südländers hatte ehedem an den Höfen der Visconti und Sforza, der berühmten Herzöge von Mailand, geherrscht. Aber seit dem Jahre 1524, da sich die Spanier Mailands bemächtigt hatten, jene schweigsamen, argwöhnischen, stolzen Herrscher, die überall Aufruhr witterten, waren Freude und Frohsinn entschwunden. Das Volk, das immer die Sitten seiner Herrscher annimmt, ward mehr darauf bedacht, die kleinste Unbill mit einem Dolchstoß zu vergelten, als die Gegenwart zu genießen.
Vom 15. Mai 1796, dem Tage des Einzuges der französischen Armee in Mailand, bis zum April 1799, als sie diese Stadt wegen der Schlacht von Cassano wieder räumen mußte, hatten Übermut, Lebensfreude, Sinnenlust und völliges Vergessen aller trüben, ja selbst aller vernünftigen Gedanken derartig überhand genommen, daß man sogar alte Millionäre und Krämerseelen, Wucherer und griesgrämige Notare finden konnte, die während dieser Zwischenzeit ihr mürrisches Wesen und ihre Gewinnsucht abgelegt hatten.
Eine Ausnahme bildeten etliche Familien des Hochadels, die sich auf ihre Landschlösser zurückgezogen hatten, sozusagen aus Groll über den allgemeinen Jubel und das Aufgehen aller Herzen. Freilich muß man zugestehen, daß diese reichen Adelsgeschlechter bei der Aufbürdung der französischen Kriegssteuern in empfindlicher Weise ausgezeichnet worden waren.
Der Marchese del Dongo, ärgerlich über so viel Frohsinn, hatte sich als einer der ersten auf sein prächtiges Schloß Grianta jenseits Comos zurückbegeben, wo ihn die Damen in Gesellschaft des Leutnants Robert besuchten. Dieses Schloß, in einer Lage, wie sie auf Erden vielleicht nirgends zu finden ist, auf einer Hochebene, hundertundfünfzig Fuß über dem herrlichen See, den es weithin beherrscht, war ehedem eine feste Burg. Die Familie del Dongo hatte sie, wie die wappenbelasteten Marmorwände überall kund gaben, im Quattrocento erbauen lassen. Noch war sie mit Zugbrücken und tiefen Gräben versehen, in denen freilich kein Wasser mehr stand. Gleichwohl war dieses Schloß mit seinen achtzig Fuß hohen und sechs Fuß starken Mauern vor einem etwaigen Handstreich geschützt und eben darum dem mißtrauischen Marchese lieb und wert. Umgeben von fünfundzwanzig bis dreißig Lakaien, die er alle für treu und ergeben hielt, wahrscheinlich, weil er sich nie anders als durch Schimpfworte mit ihnen unterhielt, wurde er dort weit weniger von Furcht gequält als in Mailand.
Diese Furcht war nicht ganz unberechtigt. Der Marchese stand in sehr regem Briefwechsel mit einem österreichischen Spion, der sich an der Schweizer Grenze, drei Meilen von Grianta, aufhielt. Der Zweck war die Befreiung von Kriegsgefangenen, was von den französischen Generalen einmal übel aufgefaßt werden konnte.
Der Marchese hatte seine junge Gemahlin in Mailand gelassen. Dort leitete sie die Familiengeschäfte. Sie war beauftragt, gegen die Kriegssteuern Einspruch zu erheben, die der Casa del Dongo, wie man dort zu sagen pflegt, auferlegt waren. Sie suchte ihre Herabsetzung zu erwirken, was sie freilich zwang, mit Edelleuten, die öffentliche Ämter angenommen hatten, und gar mit besonders einflußreichen Nichtadligen in Berührung zu kommen. Dazwischen hinein fiel ein wichtiges Familienereignis. Der Marchese hatte seine junge Schwester Gina mit einer außerordentlich reichen und hochgeborenen Persönlichkeit verheiraten wollen. Aber der Bewerber trug eine gepuderte Haarbeutelperücke. Gina lachte ihm darob ins Gesicht und beging alsbald die Tollheit, den Grafen Pietranera zu heiraten. Dieser Pietranera war zwar unbedingt ein tadelloser Edelmann, eine wunderschöne Erscheinung, aber wie schon sein Vater arm wie eine Kirchenmaus und, was das Schlimmste war, ein eifriger Anhänger der neuen Ideen. Pietranera war Leutnant in der Italienischen Legion, was den Marchese vollends in Verzweiflung brachte.
Nach jenen zwei Jahren des Rausches und des Glückes nahm das Direktorium der Französischen Republik allmählich einen monarchischen Ton an; es bezeigte tödlichen Haß gegen alles, was sich über die Mittelmäßigkeit erhob. Die unfähigen Generale, die es über die Armee in Italien setzte, verloren in denselben Ebenen um Verona, die zwei Jahre vorher Zeugen der Wunder von Arcole und Lonato gewesen, eine Schlacht nach der anderen. Die österreichische Armee rückte auf Mailand vor, und Robert, inzwischen zum Bataillonskommandeur befördert und in der Schlacht von Cassano verwundet, verweilte eine letzte Nacht im Hause seiner Freundin, der Marchesa del Dongo. Der Abschied war schmerzlich. Robert verließ Mailand zugleich mit dem Grafen Pietranera, der die Franzosen auf ihrem Rückzuge nach Novi begleitete. Die junge Contessa, der ihr Bruder die Auszahlung ihres rechtmäßigen Erbteils verweigerte, folgte ihrem Mann in einem Wagen.
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