Mathilde liebte zum ersten Male.
Das Leben, das ihr bis dahin träg dahingeschlichen war, entfloh ihr jetzt mit Windeseile. Gleichwohl erheischte ihr Stolz irgendwelche Betätigung, und so setzte sie sich kühn allen den Gefahren aus, die mit ihrer Liebschaft verknüpft waren. Julian war der Vorsichtige. Nur wo Gefahr im Spiele war, unterwarf sie sich nicht seinem Willen. So fügsam und ergeben sie gegen ihn war, um so hochmütiger benahm sie sich gegen jedermann, der im Hause mit ihr in Berührung kam, gegen ihre Eltern wie gegen die Dienerschaft.
Abends im Salon, wenn oft an die sechzig Personen zugegen waren, rief sie Julian heran und unterhielt sich allein und lange mit ihm.
Eines Tages setzte sich der kleine Tanbeau neben sie. Sofort bekam er von ihr den Auftrag, ihr aus der Bibliothek den Band Smolett zu bringen, in dem die Revolution von 1688 geschildert ist. Als er zögerte, fügte sie ihrem Befehl in kränkendem Tone, der für Julians Seele Nektar und Ambrosia war, die Worte hinzu: »Nehmen Sie sich nur ordentlich Zeit!«
Als er fort war, sagte sie zu Julian: »Haben Sie den Blick dieses kleinen Scheusals bemerkt? Sein Onkel hat ein Dutzend Jahre unserm Hause Dienste geleistet. Sonst würde ich ihn augenblicklich vor die Tür setzen lassen.«
Ihr Betragen gegen Croisenois, Luz und die andern Herren war zwar äußerlich tadellos höflich, aber im Grunde nicht minder herausfordernd. Sie machte sich starke Vorwürfe ob all der Geständnisse, die sie Julian gemacht hatte, um so mehr, weil sie ihm nicht zu bekennen wagte, daß sie die harmlosen Gunstbeweise, die sie ihren Freunden gegönnt, ihm übertrieben geschildert hatte. Trotz der schönsten Vorsätze hinderte sie ihr Frauenstolz immer wieder, zu Julian zu sagen: »Gerade weil ich mit dir sprach, machte es mir Vergnügen, dir zu bekennen, daß ich die Schwäche gehabt habe, meine Hand nicht zurückzuziehen, wenn Croisenois die seine auf einen Marmortisch legte und meine Hand ein wenig berührte.«
Wenn jetzt einer der Herren ein Gespräch mit ihr begann, hatte sie bald eine Frage an Julian, damit er in ihrer Nähe blieb.
Sie fühlte sich Mutter werden und teilte diese Entdeckung voller Freude dem Geliebten mit.
»Zweifeln Sie noch an mir!« fragte sie ihn. »Ist das keine Bürgschaft? Ich bin nun für immerdar Ihre Frau!«
Diese Mitteilung überraschte und erschütterte Julian. Er war nahe daran, das Leitmotiv seines Verhaltens zu vergessen. »Was hat es für Zweck, absichtlich kalt und böse gegen ein armes Mädchen zu sein, das sich für mich unglücklich macht?«
An Tagen, wo Mathilde ein wenig leidend aussah, selbst wenn der Verstand seine Schreckensstimme noch so laut erhob, hatte er nicht mehr den Mut, eines jener grausamen Worte an sie zu richten, die seiner Erfahrung nach unerläßlich waren, um sich ihre Liebe zu erhalten.
Eines Tages erklärte sie ihm: »Ich will meinem Vater schreiben. Er ist mir mehr als bloß Vater. Er ist mein Freund. Darum wäre es meiner und deiner unwürdig, ihn täuschen zu wollen.«
»Allmächtiger!« rief Julian erschrocken. »Was willst du tun?«
»Meine Pflicht!« erwiderte sie mit freudestrahlenden Augen.
Sie war ungleich hochherziger als ihr Geliebter.
»Er wird mich mit Schimpf und Schande von dannen jagen«, sagte Julian.
»Das ist sein Recht. Wir müssen es achten. Ich werde dir den Arm reichen und mit dir zusammen zum Tore hinausgehen am hellichten Tage.«
Verwirrt bat er, ihr Geständnis noch eine Woche hinauszuschieben.
»Das kann ich nicht!« sagte sie. »Meine Ehre erheischt es. Nachdem ich erkannt habe, was meine Pflicht ist;, muß ich sie erfüllen, und zwar sofort.«
»Dann befehle ich dir, es aufzuschieben!« rief er schließlich. »Deine Ehre ist außer Gefahr. Ich bin dein Gatte. Ein so entscheidender Schritt ändert deine wie meine Lage vollständig. Ich habe auch Rechte. Heute ist Dienstag. Heute in acht Tagen ist der Empfangstag beim Herzog von Retz. Abends, wenn dein Herr Vater heimkommt, soll ihm der Pförtner den Schicksalsbrief überreichen. Bedenke, wie unglücklich er sein wird! Sein Lieblingsgedanke ist deine Erhöhung zur Herzogin.«
»Willst du damit sagen: Bedenke seine Rache?« fragte sie.
»Mein Wohltäter tut mir in der Seele leid. Ich bin betrübt, daß ich ihm Schaden zufüge. Aber Furcht habe ich nie. Vor niemandem!«
Mathilde gab nach.
Seit sie ihm ihren Zustand mitgeteilt hatte, war dies das erste Mal, daß er herrisch vor ihr auftrat. Julian stand auf dem Gipfel seiner Liebe. Ihre Mutterschaft rührte an die zärtlichsten Saiten seines Herzens. Zu seinem Glück hatte er darin einen Vorwand, der ihn seiner Grausamkeit gegen Mathilde entband.
Daß der Marquis alles erfahren sollte, beunruhigte ihn maßlos. »Werde ich von Mathilde getrennt werden?« fragte er sich tausendmal. »Und wenn sie noch so schmerzensvoll mich scheiden sieht: wird sie vier Wochen später noch meiner gedenken?«
Ebenso schauderte ihn vor den berechtigten Vorwürfen, die er vom Marquis zu erwarten hatte.
Abends gestand ihr Julian seinen doppelten Kummer, erst in dieser und dann, von seiner Liebe hingerissen, auch in jener Hinsicht.
»Ist es Wahrheit?« fragte sie. »Ein halbes Jahr Trennung von mir wäre ein Unglück für dich?«
»Ein unsagbares! Das einzige auf Erden, wovor mir graut!«
Mathilde war überglücklich. Julian hatte seine Komödie so genau auf ihren Charakter zugeschnitten, daß es ihm wirklich gelungen war, ihr einzureden, sie sei es, die von beiden am meisten liebte.
Der verhängnisvolle Dienstag war gekommen.
Als der Marquis um Mitternacht nach Hause kam, fand er auf seinem Schreibtisch einen Brief, auf dem geschrieben stand: »Persönlich und nur zu öffnen, wenn niemand zugegen ist!«
Der Brief begann wie folgt:
Mein lieber Vater
Zwischen uns sind alle Bande der Gesellschaft zerrissen. Es verbleiben nur die der Natur. Nächst meinem Gatten bist Du mir heute wie immerdar der Liebste auf Erden. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich denke an den Kummer, den ich Dir zufüge. Noch kennt niemand meine Schande. Du sollst Zeit zum Überlegen und zu den nötigen Maßregeln haben. Deshalb darf ich das Geständnis, das ich Dir schulde, nicht länger aufschieben. Wenn mir Deine Güte, die, wie ich weiß, zu mir immer grenzenlos gewesen ist, ein kleines Jahresgeld gewährt, so werde ich mich mit meinem Manne irgendwo, wo Du willst, etwa in der Schweiz, niederlassen. Sein Name ist derartig obskur, daß kein Mensch in einer einfachen Frau Sorel Deine Tochter vermuten wird. Damit habe ich Dir den Namen gebeichtet, den mir hinzuschreiben unsagbar schwer geworden ist.
Dein Zorn ist ohne Frage berechtigt. Julians wegen bangt mir davor. Ich werde nun keine Herzogin. Dies habe ich gewußt, seit ich ihn liebe. Ich bin es, die zuerst geliebt hat. Ich bin seine Verführerin. Von Dir habe ich meine allzu hochfliegende Seele geerbt. Es ist mir unmöglich, mich mit Alltäglichem abzugeben. Um Dir zu gefallen, habe ich mir Mühe gegeben, Herrn von Croisenois ins Auge zu fassen. Vergeblich. Du selbst hast mich gelehrt, Julians Wert zu erkennen. Als ich von Hyeres wieder heimkam, hast Du zu mir gesagt: Der junge Sorel ist der einzige Mensch, an dem ich Freude habe.
Der arme Junge ist über den Kummer, den Dir mein Brief bereitet, ebenso untröstlich wie ich. Daß Du als Vater zornig auf mich bist, kann ich nicht verhindern. Aber als Freund mußt Du voll Liebe zu mir sein.
Julian hat vor mir immer den Abstand gewahrt. Wenn er hin und wieder mit mir sprach, so geschah dies nur voll aufrichtiger Dankbarkeit gegen Dich. Er ist eine durch und durch vornehme Natur. Vor jedwedem, der über ihm steht, hält er auf die gehörige Form. Er hat ein feines natürliches Gefühl für soziale Unterschiede. Voll Scham gestehe ich Dir, meinem besten Freunde, was ich keinem andern Menschen nochmals bekennen werde: ich bin es gewesen, ich, die eines Tages im Garten seine Hand gedrückt hat.
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