1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 „Das ist von meinem verdammten Verleger“, erklärte er, und wedelte mit einem Blatt in der Hand. Es war ein Brief, der mit der Morgenpost gekommen war und den ich nicht bemerkt hatte. Ich war für das Sortieren der Post zuständig, und ich bedauerte, ihm den Brief nicht sofort gegeben zu haben. Vielleicht war er ja wütend auf mich, weil ich ihm eine wichtige Botschaft vorenthalten hatte. Seine nächsten Worte enthüllten jedoch das Geheimnis.
„Ich wünschte, dieser Brief wäre unterwegs verloren gegangen“, sagte er angewidert. „Er möchte, dass ich ihm den Rest des Manuskripts schicke.“
Mein Schweigen schien seine Wut zu anzufachen. „Und ich habe keine anderen Kapitel, die ich ihm senden kann.“
„Ich sehe Sie seit Tagen schreiben“, wagte ich verwirrt anzubringen.
„Es gibt Tage, da schreibe ich solchen Mist, der es nur verdient dort zu enden, wo er letztendlich auch endet“ meinte er und zeigte auf den Kamin.
Ich hatte es wohl bemerkt, dass das Feuer am Vortag angezündet worden war, und ich war auch erstaunt darüber, da die Temperaturen noch ausgesprochen sommerlich waren, aber ich hatte nicht nach einer Erklärung gefragt.
„Versuchen Sie doch, mit Ihrem Verleger zu reden. Möchten Sie, dass ich ihn anrufe?“, schlug ich schnell vor. „Ich bin sicher, dass er es verstehen wird ...“
Er unterbrach mich mit einer Handbewegung, als ob er eine lästige Fliege verjagen würde. „Verstehen was? Dass ich eine kreative Krise habe? Dass ich eine klassische Schreibblockade durchlebe?“ Sein spöttisches Lächeln ließ mein Herz höher schlagen, gerade so, als ob er es sanft berührt hätte.
Er warf den Brief auf den Schreibtisch. „Mit dem Buch geht es nicht voran. Zum ersten Mal in meiner Karriere scheine ich nichts mehr zu Schreiben zu haben, meine Quelle ist versiegt.“
„Dann machen Sie etwas anderes“, sagte ich impulsiv.
Er sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. „Wie bitte?“
„Gönnen Sie sich eine Pause, einfach um zu sehen, was mit Ihnen los ist“, sagte ich verzweifelt.
„Und was soll ich tun? Etwa joggen? Eine Autofahrt? Oder ein Tennismatch?“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war so scharf, dass er mich zerriss. Ich konnte fast die klebrige Hitze von dem Blut spüren, das aus den Wunden sprudelte.
„Es gibt nicht nur Hobbys für den Körper“, sagte ich und senkte den Kopf. „Sie könnten etwas Musik hören. Oder lesen.“
So, jetzt hätte er mich in einem Augenblick abserviert, als jemand der die größte Anhäufung von Unsinn der Geschichte von sich gegeben hatte. Stattdessen waren seine Augen wachsam auf mich gerichtet.
„Musik. Das ist keine schlechte Idee. Ich hab‘ ja nichts Besseres zu tun, nicht wahr?“ Er zeigte auf einen Plattenspieler, auf dem obersten Brett des Regals. „Nehmen Sie ihn runter, bitte.“
Ich kletterte auf den Stuhl und hob ihn nach unten, während ich die Details bewunderte. „Das ist wunderschön. Ein Original, nicht wahr?“
Er nickte, während ich den Plattenspieler auf den Schreibtisch setzte. „Ich bin schon immer ein Liebhaber von alten Dingen gewesen, auch wenn dies hier eher zum modernen Antiquariat gehört. In der roten Schachtel finden Sie Vinyl-Schallplatten.“
Ich stand vor dem Regal, die Arme ließ ich kraftlos hängen. Da waren zwei dunkle Schachteln von ähnlicher Größe auf dem gleichen Regalbrett, wo vorher der Plattenspieler stand. Ich befeuchtete meine trockenen Lippen mit der Zunge, meine Kehle war ausgedörrte.
Er rief mich voller Ungeduld. „Nun machen Sie schon, Miss Bruno. Klar, gehe ich nirgendwo hin, aber das rechtfertigt nicht Ihre Langsamkeit. Was ist los? Sind Sie eine Schnecke? Oder er haben Sie das Kyle abgeguckt?“
Ich würde mich nie an seinen Sarkasmus gewöhnen können, dachte ich wütend, als ich eine eilige Entscheidung traf. War es vielleicht an der Zeit, mich zu meiner sonderbaren Anomalie zu bekennen, oder sollte ich den Weg des geringsten Widerstands gehen, so wie in der Vergangenheit? Das heißt, einfach eine Schachtel zufällig greifen und hoffen, es wäre die richtige? Ich konnte sie nicht vorher öffnen und den Inhalt erspähen, sie waren mit großen Stücken Klebeband verschlossen. Mit dem Gedanken an die schrecklichen Kommentare, die ich über mich ergehen lassen müsste, wenn ich die Wahrheit sagen würde, traf ich eine Entscheidung. Ich kletterte auf den Stuhl und hob eine Schachtel nach unten. Ich stellte sie auf den Tisch ohne ihn anzusehen.
Ich hörte schweigend zu, wie er darin wühlte. Überraschenderweise war es die richtige. Und ich fing wieder an zu atmen.
„Hier ist sie!“ Er reichte mir eine Platte. Debussy.
„Warum diese?“ fragte ich.
„Weil ich Debussy mit neuen Augen sehe, seit ich weiß, dass Ihr Namen als Tribut an ihn gewählt wurde.“
Die primitive Einfachheit seiner Antwort nahm mir den Atem, mein Herz wand sich zwischen den Qualen der Hoffnung. Und diese waren einfach zu schön um wahr zu sein.
Ich konnte nicht träumen. Vielleicht, weil mein Geist bei der Geburt bereits das erkannt hatte, was mein Herz nicht zu tun gedachte. Dass Träume niemals Wirklichkeit werden. Zumindest nicht meine.
Die Musik nahm an Volumen zu und füllte den Raum. Zuerst sanft, dann etwas energischer, bis sie sich in ein aufregendes verführerisches Crescendo steigerte.
Mc Laine schloss die Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sog das Tempo und den Rhythmus auf, machte diese zu seinen eigenen und beging somit einen autorisierten Diebstahl.
Ich beobachtete ihn, und nutzte so die Tatsache aus, dass er mich nicht sehen konnte. In diesem Moment schien er mir furchtbar jung und zerbrechlich, als ob ihn eine einfache Windböe erfassen und davon tragen könnte. Auch ich schloss die Augen bei diesem unglaublichen und lächerlichen Gedanken. Er gehörte mir nicht. Er würde mir nie gehören. Rollstuhl hin oder her. Je früher ich dies erkannt hätte, desto eher würde ich meinen gesunden Menschenverstand wiederfinden, meinen tröstliche Aufgabe, mein seelisches Gleichgewicht. Ich konnte nicht den Käfig aufs Spiel setzen, in dem ich mich absichtlich eingeschlossen hatte, und das Risiko eingehen, schrecklich für eine bloße Fantasie, die eher einer Jugendlichen zustand, zu leiden.
Die Musik hörte auf, feurig und mitreißend.
Wir öffneten die Augen im gleichen Augenblick. Seine spiegelten die übliche Kälte wieder. Meine waren beschlagen und schläfrig.
„Das Buch wird so nichts“ verfügte er. „Lassen Sie den Plattenspieler verschwinden, Melisande. Ich würde gern ein wenig schreiben, oder besser gesagt, alles neu schreiben.“
Er wendete sich mit einem strahlenden Lächeln an mich. „Die Idee mit der Musik war brillant. Danke.“
„Aber ich denke ... Ich habe doch nichts Besonderes getan“, stammelte ich, wich seinem Blick und jenen Tiefen aus, in denen ich regelmäßig Gefahr lief, mich zu verlieren.
„Nein, sie haben wirklich nichts Besonderes getan“, gab er zu, und meine Moral sank in den Keller, weil er mich auf so schnelle Weise verabschiedet hatte. „Sie sind das Besondere, Melisande. Sie, nicht das, was Sie sagen oder tun.“
Sein Blick kreuzte den meinen, fest entschlossen, ihn, wie üblich, zu erfassen. Er hob die Augenbrauen, mit dieser Ironie, die ich mittlerweile so gut kannte.
„Danke, Sir“, antwortete ich zerknirscht.
Er lachte, als ob ich einen Witz erzählt hätte. Ich verübelte es ihm nicht. Er fand mich amüsant. Immerhin, besser als nichts. Ich dachte an unser Gespräch vor ein paar Tagen zurück, als er mich fragte, ob ich aus Liebe meine Beine oder meine Seele gegeben hätte. Ich antwortete damals, dass ich nie geliebt hatte, und deshalb nicht wüsste, wie ich gehandelt hätte. Jetzt wurde mir bewusst, dass ich diese Fangfrage jetzt vielleicht beantworten könnte.
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