Ich starrte auf den mit Papier überladenen Schreibtisch, und fühlte mich unter dem Blick seiner kalten Augen unbehaglich.
„Was würdest du anstelle der Stechmücke machen, Melisande? Würdest du darauf verzichten, dich zu ernähren? Würdest du lieber vor Hunger sterben, um nicht Parasit genannt zu werden?“ Sein Ton war fordernd, so als ob er eine Antwort erwartete.
Und ich gab nach. „Wahrscheinlich nicht. Aber ich bin mir nicht so ganz sicher. Ich müsste eine Mücke sein, um ganz sicher zu gehen. Ich würde gerne glauben, dass ich eine Alternative finden könnte. Ich vermied es sorgfältig ihn anzusehen.
„Es gibt nicht immer Alternativen, Melisande“. Einen Augenblick lang zitterte seine Stimme unter dem Gewicht eines Leidens, von dem ich keine Ahnung hatte, mit dem er sich seit fünfzehn langen Jahre jeden Tag abfinden musste. „Wir sehen uns um zwei Uhr, Miss Bruno. Seien sie pünktlich.“
Als ich mich zu ihm umdrehte, hatte er den Rollstuhl schon gewendet, sein Gesicht hatte er von mir weggedreht.
Im Bewusstsein einen Fauxpas begangen zu haben, fühlte sich mein Herz an, als ob es von einem Schraubstock zerquetscht würde, aber es gab keine Möglichkeit der Abhilfe.
Schweigend verließ ich den Raum.
Punkt zwei Uhr erschien ich im Büro. Kyle kam gerade mit einem unberührten Tablett in den Händen heraus. Er verströmte die Atmosphäre von jemandem, der alles liegen und stehen lassen und sich ans andere Ende der Welt verziehen möchte.
„Er hat sehr schlechte Laune und will nichts essen“, murmelte er.
Der Gedanke, dass ich die unfreiwillige Ursache seiner Stimmung sein könnte, versetzte mir einen Stich im tiefsten Inneren, in jeder Faser meines Körpers, in jeder einzelnen Zelle. Ich hatte noch nie jemandem etwas angetan, ich bewegte mich fast auf Zehenspitzen, um niemanden zu stören und achtete aufmerksam auf jedes Wort, um ja niemanden zu verletzen.
Ich trat über die Schwelle, mit einer Hand an der Tür, die Kyle offen gelassen hatte. Als ich eintrat, hob er seinen Blick. „Ah, Sie sind es. Kommen Sie herein, Miss Bruno. Legen Sie bitte einen Zahn zu.“
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, gehorchte ich ihm.
Er presste einige mit einer feinen männlichen Kalligraphie beschriebenen Blätter auf den Schreibtisch. „Versenden Sie diese Briefe. Einen an den Direktor meiner Bank und die anderen an die unten aufgeführten Adressen.“
„Sofort, Mister Mc Laine“, antwortete ich mit Ehrerbietung.
Als ich in sein Gesicht blickte, stellte ich mit Freude fest, dass das Lächeln zurückgekehrt war.
„Wie sind wir auf einmal so förmlich, Miss Bruno. Es besteht keine Eile. Die Briefe sind nicht wirklich wichtig. Es geht bei ihnen nicht um Leben oder Tod. Ich führe eh' schon seit vielen Jahren das Leben eines Toten.“
Trotz der Härte seiner Aussage schien er seine gute Laune wiedergefunden zu haben. Sein Lächeln war ansteckend und wärmte meine aufgewühlte Seele. Zum Glück schmollte er nie zu lange, auch wenn seine Wutausbrüche jähzornig und heftig waren.
„Können Sie Auto fahren, Melisande? Ich müsste Sie in die Dorfbücherei schicken, um einige Bücher abzuholen. Sie wissen schon, Recherche.“ Das Lächeln wurde durch eine Grimasse ersetzt. „Ich kann natürlich nicht hingehen“, fügte er hinzu, als ob es eine Erklärung bedurfte.
Verlegen ballte ich die Blätter in meinen Händen und lief Gefahr, sie völlig zu zerknittern. „Ich habe keinen Führerschein, Sir“, entschuldigte ich mich.
Die Überraschung veränderte seine wunderschönen Gesichtszüge. „Und ich dachte, dass die heutige Jugend es nicht erwarten könnte, erwachsen zu werden nur um offiziell fahren zu dürfen. Sie tun es ja ohnehin schon vorher, heimlich halt.“
„Ich bin anders, Sir“, sagte ich lakonisch. Und das war ich wirklich. Fast schon außerirdisch, mit meinem Anderssein.
Er schaute mich forschend mit diesen schwarzen Augen an, die fast noch durchdringender als Röntgenstrahlen waren. Ich hielt seinem Blick stand und versuchte so aus dem Stehgreif eine plausible Ausrede zu finden.
„Ich habe Angst zu fahren, und deswegen würde ich wahrscheinlich nur eine Katastrophe nach der anderen verursachen“, erklärte ich schnell, während ich die Blätter glättete, die ich selbst zuvor zerknittert hatte.
„Nach so viel Aufrichtigkeit Ihrerseits, klingt das mir eher nach einer Ausrede“, befand er.
„Es ist die Wahrheit. Ich könnte wirklich... .“ Ich verlor meine Stimme für einen langen Augenblick, dann versuchte ich es erneut. „Ich könnte wirklich jemanden töten.“
„Der Tod ist das kleinere Übel“, flüsterte er. Er senkte seine Augen auf seine Beine und zuckte mit seinem Unterkiefer.
Im Geist verfluchte ich mich. Schon wieder war es passiert. Ich baue wirklich ständig Mist, auch wenn ich nicht hinter dem Lenkrad saß. Eine Gefahr für die Öffentlichkeit, sträflicher Weise unsensibel und nur dazu fähig, ständig ins Fettnäpfchen zu treten.
„Habe ich Sie vielleicht gekränkt, Mister Mc Laine?“ Die Angst sickerte durch jedes Wort meiner Frage, und erweckte ihn aus seiner Erstarrung.
„Melisande Bruno, eine junge Frau, die was weiß ich woher kam, die so schräg und lustig ist, wie wenn sie aus einem Cartoon entsprungen wäre... Wie kann dieses Mädchen den großen Schriftsteller des Grauens, den teuflischen und perversen Sebastian Mc Laine beleidigen?“ Seine Stimme war flach, ganz im Gegensatz zu der Härte seiner Worte.
Ich wrang meine Hände, da ich genauso aufgeregt war wie bei unserem ersten Zusammentreffen. „Sie haben Recht, Sir. Ich bin ein Niemand. Und…“
Seine Augen verengten sich zu bedrohenden Schlitzen. „Ach was. Sie sind nicht ein Niemand. Sie sind Melisande Bruno. Also sind Sie jemand. Lassen Sie sich niemals von irgendwem demütigen, auch nicht von mir.“
„Ich sollte lernen, den Mund zu halten. Bevor ich in dieses Haus kam gelang mir das sogar sehr gut“, murmelte ich bestürzt und senkte den Kopf.
„Midnight Rose verfügt über die Macht das Schlechteste aus Ihnen herauszuholen, Melisande Bruno? Oder ist es meine Wenigkeit, die über solch erstaunlichen Fähigkeiten verfügt?“ Er drehte sich mit einem wohlwollenden Lächeln, mit der Großmut eines Herrschers zu mir.
Ich nahm glücklich dieses implizite Friedensangebot an und gewann mein Lächeln zurück. „Ich glaube, es hängt von Ihnen ab, Sir“, gab ich mit leiser Stimme zu, als ob ich eine Todsünde beichtete.
„Ich wusste ja, dass ich ein Teufel bin“, sagte er ernst. „Aber bis zu diesem Grad? Da bleiben mir doch die Worte weg...“
„Wenn Sie möchten, reiche ich Ihnen ein Wörterbuch“, sagte ich lachend. Die Atmosphäre war heiter, und auch mein Herz fühlte sich erleichtert.
„Ich glaube, der eigentliche Teufel sind Sie, Melisande Bruno“, fuhr er stichelnd fort. „Satan selbst hat Sie mir gesandt, um meine Ruhe zu stören.“
„Ruhe? Sind Sie sicher, dass Sie das nicht mit Langeweile verwechseln?“ spaßte ich.
„Wenn dem so war, dann ist es mit Ihnen hier damit vorbei, das ist gewiss. Vielleicht werde ich es, wenn es in diesem Tempo weitergeht, am Ende auch noch bedauern“, antwortete er mit Nachdruck.
Wir lachten und fanden uns beide auf der gleichen Wellenlänge, als jemand an der Tür klopfte. Drei Mal.
„Mrs. Mc Millian“, kündigte er an, ohne seinen Blick von meinem Gesicht abzuwenden.
Ich tat es, wenn auch widerwillig, um die Haushälterin hereinzubitten.
„Dr. Mc Intosh ist hier, Sir!“ sagte die gute Frau mit einem Hauch von Angst in ihrer Stimme.
Die Miene des Schriftstellers verfinsterte sich augenblicklich. „Es ist schon wieder Dienstag?“
„Ja, Sir. Möchten Sie, dass ich ihn Ihr Schlafzimmer bitte?“, fragte sie betulich.
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