Im folgenden Abschnitt möchte ich besprechen, auf welche Art und Weise man die einzelnen Bereiche der Trancephänomene verstehen kann.
3.2Dissoziation – Assoziation
»Die größte Schwierigkeit ist, zu wissen, wo man stehenbleiben soll.«
Erika Fatland
Die Dissoziation ist ein Prozess, bei dem eine ganzheitliche Erfahrung in einzelne Teile zerschlagen wird und sich das Bewusstsein eines Teils auf Kosten der übrigen Teile vergrößert. Dissoziation kann auf vielen Ebenen ablaufen. Das Phänomen der Dissoziation geben auch Begriffe wieder wie Entzweiung, Dreiteilung, Zerstückelung, Abtrennung, Zertrennen, Abschneiden, innere Zerrissenheit, Separierung, Ausgliederung, Aufteilung, Zerteilung oder Isolierung.
Das Phänomen der Assoziation dagegen lässt sich beschreiben mit Worten wie Verschmelzung, Verbindung, Integration, Zusammenfügung, Anschließen, Vereinigung oder symbiotische Tendenzen.
Janet war der erste, der Dissoziation als Block oder als Abtrennung eines bewussten oder unbewussten Teils der Psyche beschrieb. Sind Emotionen zu stark, um integriert werden zu können, dann unterliegen sie einer Abkoppelung und Verlagerung ins Unbewusste. Janet sah in diesem Mechanismus die Hauptursache von Psychopathologie. Zu diesem blockierten Material, das für das Bewusstsein nicht zugänglich ist, könne man mithilfe der Hypnose vordringen. Janet war einer der Pioniere dieser Technik. Freud adaptierte die Idee der Dissoziation – der Abtrennung bewussten und unbewussten Materials –, nutzte allerdings die Methode der freien Assoziation (die er nach eigenen Misserfolgen mit der Anwendung von Hypnose entwickelte), mit dem Ziel, zu dem auf bewusster Ebene nicht zugänglichen Material vorzudringen (Rossi 1993).
Zur Beschreibung separater (hier würden wir sagen dissoziierter) Ich-Zustände einer Person verwendet die Transaktionsanalyse die Begriffe »Kind-Ich-Zustand«, »Eltern-Ich-Zustand« oder »Erwachsenen-Ich-Zustand«.
Die meisten Therapeuten ordnen den Begriff Dissoziation dem Bereich der Pathologie zu und lassen somit das therapeutische Potenzial dieses Phänomens außer Acht (Yapko 1995).
Ein mit der Hypnose verbundener therapeutischer Ansatz, der sowohl die Konzeptualisierung als auch spezifische Arbeitsmethoden im Bereich Dissoziation – Assoziation entwickelte, ist die vom Ehepaar Helen Watkins (1921–2002) und John G. Watkins (1913–2012) begründete Ego-State-Therapie (EST) (Watkins a. Watkins 1997). Sie stützt sich auf die Annahme, dass die Persönlichkeit kein einheitliches Ganzes ist, sondern sich aus einzelnen Anteilen zusammensetzt, die Ego-States genannt werden. Jeder der Ego-States hat seine Funktion und seine Geschichte. Einige sind destruktiv, andere wiederum konstruktiv. Ziel des Ego-State-Ansatzes ist es, die verletzten Ich-Anteile zu identifizieren und zu integrieren oder die Kommunikation zwischen den dysfunktional abgetrennten Ego-States wiederherzustellen (Emmerson 2010). Die Mehrheit der Ego-States befindet sich außerhalb der bewussten Wahrnehmung, daher stellt die Hypnose, ähnlich wie bei der ericksonschen Therapie, die wichtigste Methode der therapeutischen Arbeit dar.
Das Ausmaß der Pathologie lässt sich bestimmen, indem man die Eigenschaften der Grenzen zwischen den einzelnen Ich-Anteilen beschreibt. Die voneinander abgetrennten Bereiche können entweder auf einer individuellen, sich auf den konkreten Klienten beziehenden Ebene charakterisiert werden, oder aber etwas allgemeiner, wie beispielsweise als Dissoziation von Emotionen, von Körpererfahrungen, von Wissen oder Ressourcen. Dissoziation kann in einem sehr breiten Spektrum auftreten. Dabei liegen an einem Pol gemäßigte Formen von Dissoziation, wie träumen mit offenen Augen, weggetreten sein, einen Aussetzer haben oder das Gefühl, eine mehr oder minder bestimmte Situation zum wiederholten Mal zu erleben (flashback) . Näher am entgegengesetzten Pol befinden sich dagegen Formen von deutlicherer Ausprägung, wie die Derealisations- oder Depersonalisationsstörung. Das Extrem der Dissoziation ist die multiple Persönlichkeit. Hierfür werden manchmal auch die Begriffe »doppeltes Bewusstsein« oder »doppelte Persönlichkeit« verwendet.
In der Psychotherapie haben wir es größtenteils mit Klienten zu tun, die sich an keinem der oben genannten Extreme befinden. So trifft man beispielsweise Personen an, die im Berufsleben hervorragend zurechtkommen und gleichzeitig im Privatleben schmerzlich ungeschickt sind – so, als würden die beiden Bereiche in keiner Verbindung zueinander stehen. Bei anderen wiederum gestaltet sich die persönliche oder familiäre Lebensgeschichte nicht in einer fortlaufenden Ganzheit, sondern ist voll von Lücken, weißen Flecken, dichtem Nebel, der über der Erinnerung liegt, oder tiefen Abgründen von Familiengeheimnissen. Dies alles erweckt den Anschein eines in Stücke zerschlagenen Raumes. Während der Diagnostik wird dokumentiert, was beim jeweiligen Klienten wovon getrennt ist.
Von Dissoziation zeugen auch bestimmte Arten von Aussagen:
•von sich selbst in der dritten Person sprechen, etwa »der Mensch braucht«, »man muss«, »es gehört sich«, »die Mutter sollte« (in Bezug auf sich selbst und nicht die Mutter)
•theoretisieren und Sätze auf der Grundlage von Allgemeingültigkeiten formulieren
•auf sich selbst bezogenen medizinischen oder psychologischen Jargon verwenden, z. B. »in letzter Zeit ist meine Libido etwas abgesunken« oder »ich verfüge über eine geringe Selbstachtung«;
oder auch Formulierungen wie
•»einerseits ist es so …, andererseits aber so …«,
•»ein Teil von mir sieht das so …, ein anderer Teil sieht das aber so …«
•»ja …, aber …«.
Manche Erzählungen wiederum sind sprachlich so konstruiert, als ob der Erzählende keinerlei Einfluss auf sein Leben hätte, zum Beispiel »Ich habe mein Kind einige Jahre zu früh bekommen«. In den Worten »Ich habe ein Kind bekommen« (statt: »ich habe es zur Welt gebracht (geboren)«) schwingt auch Regression mit. Die Aussage »Ich habe eine Schwester (einen Bruder) bekommen«, ist adäquat zur Situation eines Kindes, das schließlich keinerlei Einfluss darauf hat, ob es Geschwister hat oder ohne Geschwister aufwächst. Sie ist aber wiederum nicht adäquat zum Erwachsenenalter und kann von einem geringen Kontakt zum erwachsenen Anteil oder von einer Abtrennung dieses Anteils zeugen.
Manche Menschen sprechen von ihrem Schmerz auf eine Art, dass es dem Zuhörenden schwerfällt, diesen Zustand nachzuempfinden – höchstwahrscheinlich nimmt der Erzählende den Schmerz selbst nicht wahr. In Familien, in denen eine starke Tendenz zur Dissoziation vorherrscht und wegen Symptomen beim Kind eine Therapie begonnen wird, fällt auf, dass die Eltern die Beschwerden und Probleme ihres Kindes aus solch großer Distanz beschreiben, als würden sie über eine völlig fremde Person sprechen. Das Leiden der Eltern ist schwer zu spüren, wahrscheinlich sind die Eltern selbst von dieser Wahrnehmung abgeschnitten.
Einen Hinweis auf Dissoziation geben auch sehr private und enthüllende Aussagen im Anfangsprozess der Therapie, wenn der Klient den Therapeuten noch gar nicht kennt und es noch keine Möglichkeit gab, eine sichere Bindung aufzubauen. Spricht eine Klientin beispielsweise bereits beim ersten Treffen über den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater oder erzählt von einer Vergewaltigung, der sie vor Jahren zum Opfer fiel, oder ein Klient beschreibt während der ersten Sitzung Einzelheiten seines zwanghaften Masturbierens, signalisieren die Personen damit eine geringe Selbstachtung. Sie überschreiten ihre eigenen Grenzen, aber auch die Grenzen des Zuhörenden. Dieses, metaphorisch ausgedrückt, »sich psychisch nackig machen« des Klienten vor dem Therapeuten, ohne sich vorher um Sicherheit gesorgt zu haben und ohne Respekt vor der eigenen Intimsphäre, ist ein Signal dafür, dass beim Klienten eine Störung im Bereich der Grenzen (also auf dem Gebiet des Trancephänomens Dissoziation – Assoziation) vorliegt.
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