General Guisan macht dem Bundesrat einen «Vorschlag betreffend die Sicherung der Mobilmachung und der Ruhe und Ordnung im Landesinnern beim Überfall durch eine feindliche Macht». Nach seiner Auffassung haben «die Erfahrungen mit dem Einfall in Österreich, in der Tschechoslowakei, in Polen, ganz besonders die betrüblichen Erscheinungen in Dänemark und Norwegen» gezeigt, dass das heutige System der Mobilmachung «nicht ausreicht, um den neuesten Formen des Überfalls entgegenzutreten»:
Die Art der Unterhöhlung jeglichen Widerstands durch ansässige Angehörige des feindlichen Staates und ihrer Mitläufer in den Reihen des eigenen Volkes macht es notwendig, dass die Mobilmachung schlagartig einsetzen kann.
Den einrückenden Soldaten sei bekannt zu geben, «dass sie schon auf dem Wege zum Korpssammelplatz unter Umständen zum Schutze der Heimat kämpfen müssen». Es werde zur Beruhigung des Volkes beitragen, wenn es die Gewissheit habe, dass alle Versuche, den Widerstand im Innern zu brechen, zerschlagen würden. Der General will vom Bundesrat die sofortige Zustimmung zu einem von ihm entworfenen Bundesbeschluss für eine «Kriegsmobilmachung bei Überfall» und für «Weisungen über die Pflichten des Wehrmanns bei Überfall».
Auf Antrag Pilets ersetzt der Bundesrat eine umständlich formulierte Einleitung in Guisans Entwurf mit dem einfachen Satz: «Im Falle eines Überfalls wird die ganze Armee wieder aufgeboten».
Der Bundesrat ist nicht damit einverstanden, dass der «Oberbefehlshaber ohne weiteres und unter allen Umständen die Ermächtigung und somit die alleinige Kompetenz» erhält, den Mobilmachungsbeschluss sofort in Kraft zu setzen. Der Bundesrat will dem General dies nur gestatten, «wenn die Verhältnisse es erfordern». Pilet lässt Guisan wissen, dass er im Normalfall zu warten habe, bis der Bundesrat über eine Mobilmachung beraten hat. Zumindest müsse er vorgängig den Bundespräsidenten oder seinen Stellvertreter kontaktieren. Nur bei einer unmittelbar bevorstehenden, schwerwiegenden Gefahr könne der General in eigener Kompetenz handeln.
Pilet erklärt in seinem Brief an Guisan, was der Bundesrat unter «Angriff bei Überfall» versteht: Ein «vorsätzlicher Angriff, der über die feindseligen Absichten des Aggressorlands uns gegenüber keine Zweifel lässt.» Er warnt den General:
Er [der Bundesrat] ist überzeugt, dass Sie ebenfalls dafür besorgt sind, dass eine derart schwerwiegende Massnahme nicht als Folge eines zufälligen oder lokalen, vielleicht irrtümlich auf die Initiative oder Impulsivität eines untergeordneten Kommandanten ausgelösten Angriffs ergriffen wird.
Pilet hat den Brief geschrieben und vom Bundesrat absegnen lassen, weil er befürchtet, der zu Eigenmächtigkeit neigende General könnte bei einem unbedeutenden Grenzzwischenfall die Generalmobilmachung befehlen, obschon er diese gemäss den ihm bei seiner Ernennung erteilten Weisungen dem Bundesrat nur beantragen kann. Der Brief, unterschrieben im Namen des Gesamtbundesrats vom Bundespräsidenten und vom Bundeskanzler, zeugt vom Misstrauen der Zivilbehörde gegenüber dem Armeekommando.
Die Abteilung Presse und Funkspruch sammelt jetzt das «gesamte Material anhand der Radioberichte und Agenturmeldungen», das über die «deutschen Verräter- und Aushöhlungsmethoden» Aufschluss gibt. Die Polizeisektion des Armeestabs schenkt der «inneren Front» ebenfalls vermehrte Aufmerksamkeit. Dazu Feldmann:
Man hat hierauf in allen Einheiten sogenannte «Überwachungsoffiziere» eingesetzt, die ihren Dienst sehr diskret versehen. Ihre Feststellungen haben bereits zu einer Anzahl Verhaftungen geführt. So wurde u.a. eine Skihütte «ausgenommen», in welcher Offiziere und Unteroffiziere ihren Urlaub dazu benützten, um vor einem Hitlerbild einen «Treueschwur» abzulegen; die ganze Gesellschaft sitzt hinter Schloss und Riegel.
Im Nebel des Kriegs ist es schwierig, zuverlässige Informationen von Propaganda, Tatsachen von Gerüchten zu trennen. Eine von der späteren Forschung bestätigte Analyse des Kriegsgeschehens im Norden zeigt, dass die massive Überlegenheit der deutschen Truppen und nicht Verrat einer fünften Kolonne Hitlers Erfolg in Norwegen ermöglichte.
Köcher berichtet am 22. April dem Auswärtigen Amt über die vom Bundesrat und Armeekommando ausgegebenen Weisungen, deren Wortlaut «die ins tiefste gehende Erregung» widerspiegle, die das Land ergriffen habe. Im Verlaufe der militärischen Operationen sei man in der Schweiz zum Glauben gelangt, dass die beiden nordischen Länder «das Opfer einer abgefeimten unterirdischen Propaganda geworden seien»:
Man fand es unverständlich, dass sich Dänemark, wenn auch unter Rechtsverwahrung, den deutschen Forderungen unterwarf, und noch unverständlicher, dass sich in Norwegen Männer gefunden hatten, die entgegen dem Willen des Volkes und der norwegischen Regierung zur Zusammenarbeit mit den Eindringlingen bereit waren. Der norwegische Major Quisling wurde hier zu einem Symbol für innere Zersetzung und Landesverrat. Die Folge davon war, dass man glaubte, sich auch im eigenen Haus umsehen zu müssen, ob sich derartige «Quislinge», wie man sagte, auch in der Schweiz fänden, die im gegebenen Augenblick bereit wären, mit dem Feind zusammenzuarbeiten.
Köcher, der die Schweizer kennt, beschreibt die aufgekommene hysterische Stimmung so:
Seit einigen Tagen wittert man in diesem Lande überall Spione und Landesverräter. Man verdächtigt die etwa 130 000 Mann starke reichsdeutsche Kolonie und geht soweit, vom Bundesrat die Amtsentsetzung aller Beamten und Offiziere zu fordern, die mit dem Grossdeutschen Reich sympathisieren oder mit ausländischen Frauen verheiratet sind. Man glaubt, das deutsche System durchschaut zu haben: Planmässige Zersetzung der Moral der neutralen Staaten, Schaffung von Unordnung durch Ausstreuen falscher Nachrichten, Erregung defaitistischer Geisteshaltung. Lediglich auf diesem Nährboden konnte die verderbliche Aussaat gedeihen, die der Eindringling nur zu ernten brauche, um mit brutaler Gewalt den Besitz des Landes an sich zu bringen.
Die in Köchers Bericht erwähnten neuen Weisungen dienen vor allem zur Beruhigung des Volks. Die Leute sollen wissen, dass Bundesrat und General auf der Hut sind.
24. Abkommen mit den Alliierten
Die seit Kriegsbeginn dauernden, komplizierten und zähen Blockade-Verhandlungen mit den Westmächten waren Ende März so weit fortgeschritten, dass nur noch wenige überbrückbare Differenzen zu überwinden sind. Die Schweizer Unterhändlern brachten die Westmächte, die anfänglich allen Handel mit dem Feind unterbinden wollten, von ihrer starren Haltung ab. Die Handelsattachés Frankreichs und Grossbritanniens in Bern, welche die Verhandlungen führen, begreifen die Zwangslage der Schweiz und erkennen die Nutzen eines neutralen Staates mitten in Europa. Die Zentralen in London und in Paris, wo die einzelnen rivalisierenden Ministerien unterschiedliche Interessen vertreten, verzögerten jedoch den Abschluss eines Abkommens. Ungenügend informierte untere französische Instanzen bereiteten Schwierigkeiten, indem sie für die Schweiz bestimmte Waren beschlagnahmten. Energische Demarchen von Minister Stucki in Paris konnten jedoch viele bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen.
Haupttrumpf der Schweiz bei den Verhandlungen mit den Westmächten sind die Waffenlieferungen. Bereits am 6. September 1939 hatte der Bundesrat einen im April zuvor etwas eilfertig getroffenen Beschluss aufgehoben, der im Kriegsfall die Lieferung von Waffen, Munition und anderem Kriegsmaterial an Kriegsführende verbot. Er verfügte, «dass im Prinzip Kriegsmaterial an Deutschland ebenso wie an Frankreich geliefert werden kann». Die Aufhebung des Waffenembargos erfolgte damals auf Drängen der rüstungsmässig im Rückstand liegenden Westmächte. Grossbritannien und Frankreich wollten sich mit Fliegerabwehrgeschützen, Bombenzündern und anderem kriegswichtigem Gerät eindecken, das einzig, oder in bester Qualität, nur in der Schweiz erhältlich war. Der Bundesrat stützte sich bei seinem Entscheid, wieder Waffen an Kriegführende zu liefern, auf die Haager Konvention von 1907. Diese erklärt solche Lieferungen für mit der Neutralität vereinbar, sofern keine der Kriegsparteien bevorzugt wird.
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